Um darauf eine Antwort zu finden, muss geklärt sein, was Leben ist. Dafür kann es sehr viele Beschreibungen geben, hier geht es um die biologische Sicht, was Lebendigsein im Unterschied zum Nicht-Lebendigsein ausmacht. Es ist die besondere Organisiertheit biologischer Prozesse, die ein Lebewesen zu dem macht, was es ist. Die Bestimmung der Kennzeichen dieser Organisationsform kann wiederum unterschiedlich ausfallen. Zwei Beispiele:
- a) zelluläre Organisation
- b) energiereiche Makromoleküle
- c) Stoffwechsel, Energiefluss, Homöostase (Selbstregulation) und Selbsterhaltung
- d) funktionales Zusammenwirken von Nucleinsäuren und Proteinen (zB DNA, RNA)
- e) Reizbarkeit durch Umwelt
- f) Motilität, also Beweglichkeit, und sei es nur innerhalb der Zelle (siehe Spektrum: Leben)
Wikipedia stellt eine ähnliche Liste auf:
- Energie- und Baustoffwechsel und damit Wechselwirkung der Lebewesen mit ihrer Umwelt.
- Organisiertheit und Selbstregulation (Homöostase).
- Reizbarkeit, das heißt Lebewesen sind fähig, auf chemische oder physikalische Änderungen in ihrer Umwelt zu reagieren.
- Fortpflanzung, das heißt Lebewesen sind zur Reproduktion fähig.
- Vererbung, das heißt Lebewesen können Informationen (Erbgut) an ihre Nachkommen übermitteln.
- Wachstum und damit die Fähigkeit zur Entwicklung
Also: „Leben ist Definitionssache. Eine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition des Lebens gibt es nicht. Immerhin hilft Biologen eine Liste von Kriterien, Lebewesen zu erkennen. Die Synthetische Biologie möchte die Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie erkunden.“ (Webseite Synthetische Biologie der Max-Planck-Gesellschaft)
„Eine große Akzeptanz hat in den letzten 20 Jahren die sogenannte NASA-Definition gefunden: Life is a self-sustained chemical system capable of undergoing Darwinian evolution.“ (Hans Kricheldorf, Leben durch chemische Evolution? Eine kritische Bestandsaufnahme von Experimenten und Hypothesen, 2019 – stellt die gegenwärtigen Erklärungsmodelle vor und beurteilt sie aus Sicht des Molekular-Chemikers – empfehlenswert!)
Die Beschreibungen ähneln sich dennoch. Die Beantwortung der Frage „Woher kommt Leben?“ oder genauer „Wie ist Leben entstanden?“ zeigt eine größere Vielfalt von Antworten, weil es hierbei nicht um gesichertes Wissen, sondern um Hypothesen und Theorien geht. Lapidar zusammengefasst:
Zum Ablauf der chemischen Evolution existieren diverse Hypothesen. Sie werden hauptsächlich durch Experimente gestützt, die auf geologischen Erkenntnissen über die damalige chemische Zusammensetzung der Erdatmosphäre, der Hydrosphäre und der Lithosphäre sowie klimatische Bedingungen beruhen. So konnte zwar bereits die chemische Entstehung komplexer Moleküle beobachtet werden, die für biologische Abläufe notwendig sind, jedoch noch keine Bildung eines lebenden Systems. Die Experimente reichen momentan nicht zur Formulierung einer geschlossenen Theorie aus, die erklären kann, wie das Leben entstand.
Sicher scheint zu sein, dass sich nur eine Form von Leben, nämlich die auf Nukleinsäuren (RNA und DNA) beruhende, durchgesetzt hat (falls weitere existiert haben sollten bzw. überhaupt möglich sind). Wesentliche Indizien für diese Theorie sind die Gleichheit der Bausteine der zwei wesentlichsten lebenstypischen Makromoleküle in allen bekannten Lebensformen (die fünf Nukleotide als Bausteine der Nukleinsäuren und die 21 Aminosäuren als Bausteine der Proteine) und der universell gültige genetische Code.
Wikipedia Chemische Evolution siehe dort weitere Literatur
Aber am entscheidenden Punkt ist bis heute eine Leerstelle: Man weiß nicht, wie genau Leben entstand, wie durch einen chemischen Prozess aus toter Materie lebende Zellen hervorgingen. Der Verweis auf die Entstehung für das Leben notwendiger Makromoleküle erklärt eben noch nicht, wie es zum funktionalen Zusammenwirken kam, konkret wie die erste Zelle entstand. Sie ist die Organisationsform des Lebens, die den lebendigen Organismus vom materiellen Bereich des Nicht-Lebendigen abgrenzt und in sich funktional strukturiert. Der Organismus ist, so scheint es, grundverschieden von toter Materie. Dieser Satz ist allerdings umstritten. Er geht letztlich zurück auf Immanuel Kant.
Im zweiten Teil seiner Kritik der Urteilskraft (1790), der Kritik der teleologischen Urteilskraft, beschreibt Kant die „objektive formale Zweckmäßigkeit der Natur“. Im § 64
„Von dem eigentümlichen Charakter der Dinge als Naturzwecke“ heißt es:
Um einzusehen, daß ein Ding nur als Zweck möglich sei, d. h. die Kausalität seines Ursprungs nicht im Mechanism der Natur, sondern in einer Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird, suchen zu müssen, … ist selbst ein Grund, die Kausalität desselben so anzunehmen, als ob sie eben darum nur durch Vernunft möglich sei; … und das Objekt, welches nur als aus diesem möglich vorgestellt wird, würde nur als Zweck für möglich vorgestellt werden.
Ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst .. Ursache und Wirkung ist ; denn hierin liegt eine Kausalität, dergleichen mit dem bloßen Begriffe einer Natur, ohne ihr einen Zweck unterzulegen, zwar ohne Widerspruch gedacht, .. aber nicht begriffen werden kann.
und zwar der Art nach ebenso wie als Individuum, das sich selbst in allen Teilen wechselseitig produziert und erhält. Beachte das wichtige „als ob“! Im § 65 „Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen“ heißt es :
In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: und nur dann und darum wird ein solches Produkt als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen ein Naturzweck genannt werden können.
So folgt als Definition § 66:
Dieses Prinzip, zugleich die Definition derselben, heißt:
Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.
Kant betont, dass es sich hierbei um Maximen der reflektierenden Urteilskraft (und nicht, wie wir sagen würden, der physikalischen Erkenntnis) handelt, § 67:
Es versteht sich, daß dieses nicht ein Prinzip für die bestimmende, sondern nur für die reflektierende Urteilskraft sei, daß es regulativ und nicht konstitutiv sei, und wir dadurch nur einen Leitfaden bekommen, die Naturdinge in Beziehung auf einen Bestimmungsgrund, der schon gegeben ist, nach einer neuen gesetzlichen Ordnung zu betrachten und die Naturkunde nach einem anderen Prinzip, nämlich dem der Endursachen, doch unbeschadet dem des Mechanisms ihrer Kausalität, zu erweitern.
So ergibt sich folgende Dialektik § 70:
Die erste Maxime derselben ist der Satz : Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muß als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden.
Die zweite Maxime ist der Gegensatz : Einige Produkte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden (ihre Beurteilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der Kausalität, nämlich das der Endursachen).
Und in summa § 74:
Der Begriff einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur ist ein kritisches Prinzip der Vernunft für die reflektierende Urteilskraft.
Diese teleologischen Abschnitte der Kritik der Urteilskraft sind Gegenstand vielfältiger Diskussion (vgl. den von Otfried Höffe herausgegebenen Sammelband mit Interpretationen zu Kants Kritik der Urteilskraft, 2. Aufl. 2018). Die wesentlichen Punkte sind:
- die Unterscheidung der Naturdinge hinsichtlich ihrer Erklärung aus kausalen Naturgesetzen und hinsichtlich ihrer Naturzwecke, sofern es sich um Organismen handelt.
- Die Betrachtung der Naturzecke ist ein Erfordernis der Vernunft, um die organische Natur überhaupt sinnvoll zu begreifen, wenn auch nicht zu erklären oder naturgesetzlich zu verstehen.
- Organismen sind sich in allen Teilen selber Mittel und Zweck, sowohl zum Erhalt der Art als auch des Individuums.
Kant macht einen prinzipiellen Unterschied zwischen Naturgegenständen, die kausal-mechanisch erklärt werden können, und lebendigen Organismen, bei denen die kausale Erklärung für sich genommen versagt, weil sich der reflektierenden Vernunft Zielgerichtetheit, Absicht, Naturzwecke, ihr ‚Endzweck‘, aufdrängen. So führt ihn die Teleologie möglicherweise wieder zur Theologie, wenngleich nur als subjektives Postulat der reflektierenden Vernunft (siehe KdU § 75) . Das kann uns nicht mehr zufriedenstellen.
Wie wir gesehen haben, geht die Evolutionsbiologie insbesondere hinsichtlich der Erkenntnisse zur chemischen Evolution von einem graduell kontinuierlichen, kausalen Hervorgehen der organischen aus der anorganischen Natur aus. Die heutige Molekularbiologie und Genetik kennt keinen prinzipiellen Unterschied der Moleküle im biologischen und abiologischen Bereich. Wenn Kant sich Organismen in keiner Weise kausal auf ‚mechanischen‘ Naturgesetzen beruhend erklären kann, so wird dies heute als eine zeitbedingte Begrenztheit seines naturkundlichen Wissens kritisiert. Das ist sicher zutreffend.
Man kann aber fragen, ob nicht seine Bestimmung dessen, was einen Organismus ausmacht, nach wie vor im Großen und Ganzen richtig ist, auch wenn an die Stelle von Zwecken Funktionen eines Systems getreten sind, – und ob sein Beharren auf einem sagen wir qualitativen Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur (auch hinsichtlich ihrer Entstehung) per se obsolet ist. Die oben bezeichnete „Leerstelle“ in der Evolutionsbiologie und -chemie lässt einen zumindest vorsichtiger urteilen. In der Tat, was ist das Besondere am „Leben“, was macht den Unterschied, die mögliche Einzigartigkeit aus?
Erinnert sei an Wahrscheinlichkeiten, die auszurechnen nur wenige unternommen haben. Dazu Kricheldorf (s.o.):
Die Begeisterung für eine molekulare Evolution, bei der die Entstehung von Proteinen im Vordergrund stand, begann jedoch ab Mitte der 1960er-Jahre allmählich abzukühlen. Die Skepsis speiste sich aus zwei Quellen. Erstens erwiesen sich Modellversuche zur Synthese von Polypeptiden keineswegs als so erfolgreich, wie man das zuerst erhofft hatte. Zweitens wurden von verschiedenen Autoren Berechnungen angestellt, wie wahrscheinlich die zufällige Entstehung eines aus zwanzig verschiedenen Aminosäuren bestehenden Enzymproteins in einer Ursuppe sein würde und wie wahrscheinlich die Entstehung eines Einzellers aus mindestens 200 Enzymen (eine Minimalzahl). Die hier folgenden Zahlen wurden von dem Biochemiker R. Shapiro (1987) in seinem Buch Origins – A Skeptics Guide to The Creation of Life on Earth präsentiert. Es demonstriert, dass die zufällige Bildung eines biologisch relevanten Proteins eher in die Rubrik Wunschdenken als in die Rubrik wissenschaftlich sinnvolle Arbeitshypothesen eingeordnet werden muss.
H.R. Kricheldorf, a.a.O., S. 18
Das spricht nicht gegen die Grundannahme des Zusammenhangs einer evolutionären Entwicklung *) von abiotischer und biotischer, anorganischer und organischer Natur. Es mahnt nur zu größerer Genauigkeit, Vorsicht und wissenschaftlicher Bescheidenheit. Vielleicht gibt es auch bei Kants „Naturzwecken“ immer noch einiges zu lernen.
*)
Es muss nun an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass jegliches Konzept einer gerichteten chemischen Evolution den Schönheitsfehler hat, dem heutigen Verständnis der biologischen Evolution zuwiderzulaufen. Das heutige Verständnis der biologischen Evolution sieht nicht vor, dass mit Beginn der ersten Zelle alle folgenden Lebewesen gewusst haben, dass sie sich in Richtung auf die Menschheit entwickeln müssen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass jede Zelle und jede Art sich um Optimierung ihrer Fähigkeiten bemüht, um ihre Überlebenschance zu verbessern…
Hans R. Kricheldorf, a.a.O., S. 7f.
Ein einheitliches Verständnis von chemischer und biologischer Evolution erfordert also, entweder eine Rolle rückwärts beim Verständnis der biologischen Evolution hin zu einer gezielten Evolution, oder die Entstehung der ersten Zelle ausgehend von einfachen Gasmolekülen als Konsequenz einer ungerichteten chemischen Evolution zu verstehen.
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