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Über das Böse

„Das Böse“ als ontologische Substanz? – Böses als moralische Qualität – Natur und „Böses“ – Dualismus und Theodizee – Welt-Ethik statt Substanzialität

„Das Böse“ ist ein klassisches Problem der Theologie, der Philosophie und insbesondere der Ethik.

Meine These: Es handelt sich um ein klassisches Scheinproblem. „Das“ Böse gibt es nicht, „Böses“ gibt es dagegen genug.

1. Genauer: „Das“ Böse im Sinne einer ontologischen Substanz, oder schwächer, einer substanziellen Entität gibt es nicht.

2. Dagegen gibt es „Böses“ im Sinne sozial oder kreatürlich schädlicher Handlungen und /oder einen selbst und andere treffender übler, nachteiliger, schmerzender, lebensbedrohender Widerfahrnisse.

Vorläufiges Beispiel zu 1.) „Das Böse“ als eigenständige Macht, die „dem Guten“ entgegengesetzt ist und es zu verhindern sucht, begründet in einem dualistischen Weltbild bzw. ein dualistisches Weltbild begründend, wie es in vielen Religionen und platonischen Philosophien der Fall ist.

Vorläufiges Beispiel zu 2.) Ich füge einem anderen durch Betrug oder Tätlichkeit Schaden zu, bedrohe gar sein Leben. Ich schädige meine Umwelt zum Nachteil meiner eigenen und künftigen Lebensgrundlagen; ich schädige andere Kreaturen.
Ich werde von einem Steinschlag oder Blitzschlag getroffen oder erleide eine infektiöse Erkrankung.

Erläuterung 1:

zu 1.) In der (westlichen) Kulturgeschichte gibt es eine Entwicklung, die zu einer Ausdifferenzierung der Vorstellungen und Theorien über das, was „ist“, über das Sein und die Existenz führt. Dieser geschichtliche Prozess bringt Vorstellungen des Guten, des höchsten Guts, Gottes, des Geistes hervor. Es entsteht die Frage nach der Natur des Guten – und seines Gegenteils, des Bösen. Bei den Vorsokratikern steht dem „Sein“, dem „Einen“ nur das Nicht-Sein gegenüber, ohne dass dies Nicht-Sein als „Nichts“ sogleich eine eigene ontologische Qualität bekommen müsste. In der platonisch geprägten Philosophie bis weit in den Hellenismus ebenso wie in der Stoa wird daran festgehalten, dass das Böse eine Defizienz ist, das Fehlen des Guten. Der Mensch tut Böses (siehe unten Exkurs Update), und es ist allenfalls die Frage, wie sich dies böse Tun des Menschen mit der göttlichen Providenz verträgt. Krankheiten und natürliche Unglücke gehören definitiv nicht zum Bereich des Bösen. – Andererseits kann diese Vorstellung dahin konkretisiert werden, dass das Gegenteil des Guten als „das Böse“ zu einer eigenständigen Macht von ontologischer Qualität (also nicht „nichts“, sondern „etwas“) wird, die den Menschen bedrängt und verführt (Gnosis, Manichäismus, Teufel).

In den frühen Schichten des Alten Testaments gibt es diese Vorstellung des Bösen nicht. Gutes und Schlechtes kommt beides aus der Hand Gottes, Jahwehs, und es ist der Mensch selbst, aus dessen Denken und Tun Böses entsteht („Das Sinnen und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Gen 8,21b) Auch die berühmte Geschichte vom „Sündenfall“ liefert letztlich keine Begründung des Bösen, sondern bleibt deskriptiv beim Handeln des Menschen, der einer Verlockung folgt, weil er es kann. (Darauf werde ich später noch zurückkommen.) Nach dieser Tradition bleibt auch der in seinem Tun und Lassen freie Mensch unter dem Schutz und der Bewahrung Gottes, wie die merkwürdige Begründungsstruktur in Gen 8,21 zeigt: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ – eine erstaunlich nüchterne Erkenntnis. Erst später, vor allem in apokalyptischer Literatur, kommt es zu Luzifer, dem gefallenen Engel, und damit zu einer Personifizierung des Bösen als Gegenspieler Gottes. Ein Endkampf zwischen Gut und Böse wird schließlich in der neutestamentlichen Apokalypse des Johannes beschrieben.

Das „Problem des Bösen“ kommt vor allem in der neuzeitlichen Theodizeefrage zum Ausdruck. Wie kann ein guter Gott all das Böse, das tatsächlich geschieht, zulassen? Es ist die berühmte Frage nach der Rechtfertigung Gottes – mit einer uferlosen Diskussion und Literatur. Ich kann sie weithin übergehen, weil sie aus meiner Sicht der Inbegriff eines Scheinproblems ist. Das Theodizeeproblem hängt nämlich an der Voraussetzung, dass das Sein, das höchste Sein, Gott, gut ist, und dass die Welt als Werk und Schöpfung Gottes auch nur „gut“ sein kann, denn ein guter Gott kann nichts Schlechtes schaffen. Platon half sich mit dem „Demiurgen“, andere ließen die Welt von untergeordneten, fremden Göttern erschaffen sein. Das frühe Christentum hat dies dualistische Modell in der Gestalt des Marcion verworfen, ebenso wie die „Allversöhnung“ in der Theologie des Origenes – beides aus guten Gründen. Das Problem aber blieb. Heute gilt die Tatsache des Holocaust als stärkstes Argument gegen die Idee eines guten Gottes. Theologen haben alle Mühe, hier die Religionskritiker zu besänftigen, mit mäßigem Erfolg (siehe Holm Tetens’ Versuch über rationale Theologie 2015).
Die Frage ist, was denn dazu zwingt, „Gott“ und „die Welt“ als gut zu qualifizieren.

Zu 2.) In den modernen Naturwissenschaften gibt es den Begriff des Bösen nicht, das Böse ist keine naturwissenschaftliche Kategorie. Ihn dort gebrauchen zu wollen, wäre ein Kategorienfehler. Sonne, Mond und Sterne sind Himmelskörper und als solche Naturgegebenheiten wie ein Spiralnebel oder eine Supernova. Naturgegebenheiten sind nicht gut oder böse, sie sind. Wenn ein Komet die Erde trifft, mag das für den Menschen und andere Lebewesen schlecht im Sinne von nachteilig sein, weil möglicherweise Lebensgrundlagen zerstört werden. Auf solche Ereignisse passt aber keine moralisch Qualifizierung, sie sind nicht gut oder böse. Vulkanausbrüche – per se nicht böse. Erdbeben – per se nicht böse. Fluten und Stürme – per se ursprünglich nicht böse, dann aber, wenn ich sie auf menschliches Verhalten zurückführen kann, und sei es auch nur als Mitursache, möglicherweise ethisch zu qualifizieren , also zumindest teilweise „böse“. Ähnliches gilt für Krankheiten: Immer stärker wird deutlich, dass Krankheiten nur zum Teil zufällige Widerfahrnisse sind, hängen sie doch auch von der eigenen Lebensweise, Verhalten, und Aufenthaltsorten ab. Infektionen sind heute generell nicht als zufällige Verhängnisse, sondern auch als Folge menschlichen Verhaltens gegenüber Natur und Mitmensch / Mitkreatur zu betrachten. Im Einzelfall des Betroffenseins herrscht dann gleichwohl der Zufall („Unglück“, Pandemie).

Das führt zu der Definition:

Böse ist allein und all das, was in der Verfügungsgewalt und im Einflussbereich menschlichen Handelns liegt. Das Böse ist einzig eine ethische Kategorie zur Beschreibung eines Schadens oder Leides, deren genaue Inhaltsbestimmung vom Rahmenkonzept der jeweiligen Ethik abhängt.

Erläuterung 2:

Unter der vorläufigen Definition oben unter 2. wird von „sozial oder kreatürlich schädlicher Handlungen“ gesprochen. Diese Differenzierung gilt es aufzunehmen im Rahmen einer umfassenden „Mensch-und Welt-Ethik“. „Umwelt“ reicht nicht, weil sich menschliches Handeln zumindest und bestimmt im Anthropozän potentiell auf die ganze Welt, auf alle Lebewesen, auf die gesamten Lebensgrundlagen erstreckt. Hier tut sich allerdings die Frage auf, ob ein engerer Begriff von „böse“ im Sinne einer konkret und im Einzelfall nachzuweisenden Verantwortlichkeit (Zurechenbarkeit) einer Person hilfreicher ist. Fälle globaler Verantwortung und allgemeinerer Zuschreibung wären dann zum Beispiel als schädlich, zerstörerisch, lebensfeindlich zu werten. Dies hätten konkrete Ethiken zu klären.

Wenn wir es aufgeben, Metaphysik von vornherein ethisch aufzuladen und ‚Gott‘, ‚das Gute‘, den ‚Geist‘ usw. als wenngleich wirkmächtige, jedoch als epistemologische, nicht ontologische Konstrukte menschlichen Denkens auf der Suche nach Wahrheit begreifen, und wenn wir genau dadurch den problematischen ontologischen Dualismus vermeiden *), dann stellt sich das Problem der Theodizee nicht. Es bleibt allerdings die Frage, woher denn das „böse“ Verhalten des Menschen kommt, diese Bosheit im Sinnen und Trachten, von dem die alte Bibel spricht. Hier hätten Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie einiges beizutragen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das erschöpfend und zufriedenstellen ausfallen könnte. Neue Begründungen, Herleitungen und Aspekte können so gewiss gewonnen werden, aber eine befriedigende, umfassende Antwort? Wie will man all die Grausamkeiten in Kriegen und das Quälen in Folterkellern und der fortwährend stattfindenden Massenvernichtung von Mensch und Kreatur ‚erklären‘? Wäre eine Erklärung nicht schon eine faktische Rechtfertigung (die Umstände…) oder Verniedlichung all der Ungeheuerlichkeiten und Monstrositäten, zu denen Menschen fähig sind? Das ist wohl so.

Mir fällt dann nur die pragmatische Einsicht im Buch Genesis ein: Der Mensch ist so und tut so, weil er es kann, weil er die Fähigkeit und die Macht dazu hat, wann immer die internalisierten Schranken der Zivilisiertheit versagen. Der Löwe muss die Antilope schlagen, töten, fressen, um zu leben; es ist seine Natur. Der Mensch kann auch anders. So instinktgeleitet er als homo sapiens auch immer noch ist, hat er doch die Fähigkeit zur Reflexion, zum Denken und Verantworten, zum Bedenken der Folgen seines Tuns, zu Betätigung und sozialen Gestaltung seiner Rationalität. Der Löwe kann nicht mehr als nur zu töten, um selber leben zu können. Der gesamte Kreislauf des Lebens in der Natur beruht auf diesem Existieren, um verwertet zu werden. Allein der Mensch kann auch anders. Diese Verantwortung, dass er böse, furchtbar böse sein kann, der es aber auch lassen und gut, sehr gut sein kann, liegt in uns. Noch mehr: Es ist uns „die Ewigkeit ins Herz gelegt“ **), das Über-uns-selbst-Hinausgreifen, das Transzendieren unserer bisherigen Möglichkeiten. Eben dies ist unsere menschliche Natur, unsere spezifisch menschliche Existenz, nicht jenseits von gut und böse, sondern immer in der unauflöslichen Spannung zwischen dem Guten und dem Bösen, das ich tue oder das ich unterlasse. Über diese conditio humana wird uns auch keine KI hinausführen.

*) Nicht-dualistisch bin ich einem Naturalismus verpflichtet, der starke Emergenz einschließt, vgl. z.B Paul Humphreys, siehe „Mentale Verursachung“ Teil I.

**) Kohelet 3, 11: Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.


Exkurs Update: Das Böse und der Mensch

1. Nur der Mensch tut Böses, ist boshaft. „Böse“ ist eine anthropologische Kategorie; sie gehört weder zur Natur noch zur Metaphysik. Am ehesten wird das boshafte Handeln des Menschen in der Psychologie und in der Verhaltensforschung / Verhaltensbiologie thematisiert.

2. Boshaft ist, was nur einem selbst nützt und zugleich dem anderen schadet. Boshaftigkeit ist meist mit einem Lustgefühl verbunden; gerade dieses wird von Betroffenen (Opfern) als „böse“ erlebt. ‚Böses‘ Verhalten und Handeln entspringt dem Streben nach Herrschaft über und Besitz von Dingen und Menschen. Gier, Neid, Eifersucht sind Folgen dieses Strebens nach Macht und der Angst vor dem Verlust unbeschränkter eigener Macht und Stärke.

3. Jüngstes Beispiel: Wenn der tschetschenische Machthaber Kadyrow seinen 16 jährigen Sohn als gewalttätigen Folterer öffentlich darstellt, so dient das als klare Ansage der Sicherung der Herrschaft seines Clans: So brutal wie ich wird auch mein nachfolgender Sohn sein, also nehmt euch in Acht.

4. Boshaftigkeit schließt das Wissen um das Leiden und die Erniedrigung des Opfers ein. Um „böse“ zu sein, bedarf es nicht nur der berechtigten Zuschreibung der Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten und Handeln, sondern auch die faktische Fähigkeit zum spiegelbildlichen Empfinden des Leidens des Opfers der Macht- und Gewaltausübung. Das böse Tun empfindet Freude am zugefügten Leid und erlebt darin die Selbstbestätigung unbeschränkter Macht.

5. Zu klären ist, inwiefern dieses Verhalten entwicklungsbiologisch begründet werden kann, worin also der evolutionäre „Vorteil“ liegt gegenüber einem eher sozial verträglichen, positiv empathischen Verhalten der Kooperation statt der Konfrontation.

6. Bemerkung: Derzeit kann man im politischen Agieren von Staaten und Gruppen die deutliche Bevorzugung konfrontativen Verhaltens erkennen. Dabei muss man als ‚Normalfall‘ der letzten Jahrzehnte wohl eher von einer größeren Ausgewogenheit und Balance zwischen global konfrontativem und kooperativem Verhalten sprechen, das heißt, es gibt immer beides in einem bestimmten Zusammenspiel.

7. Absatz 4 ist insbesondere auf das Verhalten von Tieren hin formuliert; er enthält die Frage, inwieweit auch Tiere boshaft, „böse“ sein können. Da man heute davon ausgeht, dass die Entwicklung des Menschen aus dem Bereich der Humanoiden heraus entwicklungsgeschichtlich immer ein gradueller gewesen ist, wir also im Vergleich mit bestimmten Tierarten, insbesondere Primaten, ähnliche Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen besitzen, wird man kaum von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen Menschenwelt und Tierwelt sprechen können. Wo liegt der Knackpunkt, auch Tieren Boshaftigkeit im oben beschriebenen Sinne zuschreiben zu können? Macht- und Imponiergehabe sind evolutionär verankert und verbreitet, – ist es aber vielleicht die Fähigkeit zur Empathie, positiv wie negativ? Weiß das aggressive Tier, wie sein Opfer fühlt? Dieses Wissen und Miterleben der Auswirkung böser Handlungen auf das Opfer, gegebenenfalls auch das Lusterlebnis beim Leiden des Opfers, gehört wesentlich zur Definition von Boshaftigkeit hinzu. Inwiefern passt diese Beschreibung zum natürlichen Verhalten von entwickelten Lebewesen?

8. Ich bevorzuge den Begriff Boshaftigkeit anstelle von Bösem: Boshaftigkeit weist auf ein Verhalten, das Böse legt ein substanzielles Verständnis nahe, das ich vermeiden möchte.

12. November 2023

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