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„Existential Physics“

„A Scientist’s Guide to Life’s Biggest Questions“ ist der Untertitel des neuesten Buches von Sabine Hossenfelder (2022, deutsch „Mehr als nur Atome“ 2023) – ein New York Times Bestseller mit hohem Anspruch – und doch: Sabine Hossenfelder ist zu kurz gesprungen. Letztlich führt ihr strikt reduktionistisches Verständnis der Wissenschaft zur Reduktion des eigenen Denkens, – zumindest wenn sie de facto (und entsprechend dem englischen Begriff „science“) Wissenschaft auf Naturwissenschaft / Physik beschränkt. Auch auch so stimmt es nicht, weil sie von unhinterfragten Vorausetzungen ausgeht. Dann passiert es, dass sie den großen Bereich, den sie „a-scientific“ nennt und wohl mit „exitential“ kennzeichnet (Religion, Ethik, Philosophie („philosophy is where our knowledge ends“, 39), Psychologie, Weltanschauungen) eine reine Spielwiese des Menschen wird, der nicht mehr nach Wahrheit fragen möchte, sondern nur noch danach, was ihm subjektiv wichtig ist und was er eben nicht „wissen“ kann, – das darum der Beliebigkeit der kulturellen Prägungen überlassen ist. Dass Wissenschaft nichts anderes ist als „describing observations“, „giving good explanations“ und „making predictions by the laws of nature“, ist ihr restriktiver Denkansatz.

Because such creation stories can’t be falsified, we can’t tell if they are false, but being false is not their problem. The problem with these stories is that they are bad scientific explanations. The distinction between scientific and nonscientific explanations is central to this book, so it deserves a closer look. Science is about finding useful descriptions of the world; by useful I mean they allow us to make predictions for new experiments, or they quantitatively explain already existing observations. The simpler an explanation, the more useful it is. For a scientific theory, this explanatory power can be quantified in a variety of ways that come down to calculating how much input a theory needs to fit a set something scientists actually do in some areas of science. Cosmology is one of the cases where this is done frequently. In other areas of science, like biology or archaeology, mathematical models are not widely used now and therefore explanatory power usually can’t be quantified…. But quantification can serve to remove doubts that conclusions were biased by human perception. … A good scientific theory is one that allows us to calculate the results of many observations from few assumptions.

S. 24/25

Dem Problem der „freien Willens“ widmet sich Hossenfelder vergleichsweise ausführlich, bügelt es aber letztlich mit ihrem reduktionistischen Standardargument ab:

As you see, it isn’t easy to make sense of free will while respecting the laws of nature. Fundamentally, the problem is that, for all we currently know, strong emergence isn’t possible. That means all higherlevel properties of a system—those on large scales— derive from the lower levels where we use particle physics. Hence, it doesn’t matter just how you define free will; it’ll still derive from the microscopic behavior of particles— because everything does. (131)
According to the currently established laws of nature, the future is determined by the past, except for occasional quantum events that we cannot influence. Whether you take that to mean that free will does not exist depends on your definition of free will. (141)

Damit verbunden ist die Frage nach der Qualität des Bewusstseins, speziell nach den Besonderheiten mentaler Eindrücke („Qualia“) und der Innenperspektive („How is it like to be a bat?“), von Hossenfelder formuliert als Frage nach der Berechenbarkeit des Bewusstseins. Ihre reduktionistische Antwort ist klar:

If consciousness emerges from the fundamental laws of physics that we already know, it is computable. However, the update of the wave function in quantum mechanics might signal that we are missing some part of the story, and this missing part might be uncomputable. If that is so, consciousness might also be uncomputable. This wouldn’t
mean that consciousness causes the update of the wave function; rather, it is the other way round: that the update of the wave function would play a role in conscious awareness. This is highly speculative and no evidence speaks for it, but at present it’s compatible with what we know. (148f)

Ein grundsätzliches Problem durchzieht das gesamte Buch, nämlich die Beschränkung dessen, was Wissenschaft ist, auf „Beobachtung“ und „Erklärung“, woraus sich „Naturgesetze“ ergeben, die „Vorhersagen“ experimenteller Verläufe zulassen, – siehe oben. In den Naturwissenschaften, genauer in der angewandten Physik ist es das Standardvorgehen. Schon in der Astrophysik gilt eine weitere Beschränkung, denn Experimente im engeren Sinn sind dort kaum möglich, nur Messungen aufgrund von weiteren Beobachtungen. Das klingt einfach, enthält aber fundamentale Voraussetzungen darüber, was auf welche Weise überhaupt ‚beobachtet‘ werden kann. Es geht dabei um Daten, die mittels spezieller Apparate und ihrer Konfiguration erhoben und dann algorithmisch ausgewertet und schließlich von Wissenschaftlerinnen interpretiert werden. Sibylle Anderl (Astrophysikerin) beschreibt sehr instruktiv, wie überhaupt die ’schönen‘ Bilder der Teleskope zustandekommen. Dasselbe gilt auch für den Bereich der Teilchenphysik. Im Kernforschungszentrum CERN zum Beispiel werden mit aufwändigster Technik aufgrund von programmierten Abläufen und Modellen Daten erhoben, die dann Rückschlüsse auf bestimte Teilchen zulassen. Diese ‚Erklärungen‘ sind letztlich Interpretationen der Daten. Sie beruhen auf vorausgesetzten mathematischen Modellen und theoretischen Konzepten. Will sagen: Es gibt keine Beobachtung ohne zugrundegelegter Theorien und Modelle. Spannend wird es immer dann, wenn Beobachtungsergebnisse den Erwartungen nicht entsprechen. Dann kann es, wenn Messfehler ausgeschlossen werden, zu einer Revision der Theorien kommen: Neue Erkenntis ist gewonnen. – Solche erkenntnistheoretischen Überlegungen werden von Hossenfelder überhaupt nicht angesprochen. Sie geht praktisch-positivistisch von ihrem reduktionistischen Wissenschaftsverständnis aus, das sie vermeintlich aus den Naturwissenschaften (d.h. bei ihr Physik, – Chemie und Biologie gelten ihr als abgeleitet und kommen nicht vor) gewinnt.

Darüber hinausgehende Wissenschaft als methodisch nachvollziehbare und kritisch geprüfte Suche nach Wissen und intersubjektives Streben nach wahrer Erkenntnis gerät ihr nicht mehr ins Blickfeld, denn das ist alles a-scientific. Dabei ist die Frage nach den Kriterien für wahre Erkenntnis der Wirklichkeit selbst Teil des wissenschaftlichen Prozesses speziell im Bereich der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsphilosophie. Die aber liegen für Sabine Hossenfelder schon jenseits ihres Horizonts.

Nachdem sie all die „existentiellen“ Fragen, die ihre reduzierte Naturwissenschaft übrig lässt, dem Bereich des Meinens und Glaubens überantwortet hat, fühlt sie sich frei, allerlei Ansichten und persönliche Erfahrungen im menschlichen Miteinander und hinsichtlich der „letzten Dinge“ (ihre Standardfage: „Sind Sie religiös?“) auszubreiten, bestenfalls als nettes und gut lesbares Feuilleton, aber eben ohne den Anspruch des methodischen Denkens und Wissens. Darum muten ihre Auslassungen bisweilen recht naiv, oberflächlich und vorurteilsvoll an, weil es ihr gerade so in den Sinn kommt. Hier rächt sich der Verzicht auf eine strenge wissenschaftliche Methodik im Nachfragen nach den Gründen und Bedingungen wissenschaftlichen Vorgehens, also nach der Fundierung der eigenen Wissenschaft durch eine etablierte und historisch situtierte Wissenschaftstheorie und Philosophie. „A-scientific“ als Label öffnet letztlich der Beliebigkeit der Wertungen, Voraussetzungen und Konsequenzen des eigenen wissenschaftlichen Tuns Tor und Tür. Für einen solchen ‚Reduktionismus des Denkens‘ liefert Hossenfelder ein anschauliches Beispiel.

Dann ist das Buch auch nur das, als was es Wall Street Journal kennzeichnet: “An informed and entertaining guide to what science can and cannot tell us.” Ein bisschen unterhaltsam und – dünn das Ganze, aber hochgestochen, siehe den Anhang.


Anhang: Verlagsankündigung

“Stimulating . . . encourage[s] readers to push past well-trod assumptions […] and have fun doing so.” —Science Magazine

From renowned physicist and creator of the YouTube series “Science without the Gobbledygook,” a book that takes a no-nonsense approach to life’s biggest questions, and wrestles with what physics really says about the human condition

Not only can we not currently explain the origin of the universe, it is questionable we will ever be able to explain it. The notion that there are universes within particles, or that particles are conscious, is ascientific, as is the hypothesis that our universe is a computer simulation. On the other hand, the idea that the universe itself is conscious is difficult to rule out entirely.

According to Sabine Hossenfelder, it is not a coincidence that quantum entanglement and vacuum energy have become the go-to explanations of alternative healers, or that people believe their deceased grandmother is still alive because of quantum mechanics. Science and religion have the same roots, and they still tackle some of the same questions: Where do we come from? Where do we go to? How much can we know? The area of science that is closest to answering these questions is physics. Over the last century, physicists have learned a lot about which spiritual ideas are still compatible with the laws of nature. Not always, though, have they stayed on the scientific side of the debate.

In this lively, thought-provoking book, Hossenfelder takes on the biggest questions in physics: Does the past still exist? Do particles think? Was the universe made for us? Has physics ruled out free will? Will we ever have a theory of everything? She lays out how far physicists are on the way to answering these questions, where the current limits are, and what questions might well remain unanswerable forever. Her book offers a no-nonsense yet entertaining take on some of the toughest riddles in existence, and will give the reader a solid grasp on what we know—and what we don’t know.

Penguin Random House

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