Kategorien
Anthropologie Philosophie Religion

Redlichkeit und Ambiguität

Eine Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhat.

Ernst Tugendhat hat in seinem letzten Buch „Anthropologie statt Mystik“ (2010) Bemerkenswertes über das Verhältnis von Philosophie und Theologie bzw. Religion gesagt. Seine Ausgangsthese ist folgende:

Das Übernatürliche ist mit dadurch definiert, daß es für es keine Evidenzen pro oder contra gibt, so daß man sich klarmachen kann, daß das einzige, was für Vorstellungen in diesem Bereich spricht, das Bedürfnis ist; deswegen ist, da es in diesem Fall keine unabhängigen Evidenzen gibt, das Bedürfnis zu glauben der entscheidende Gegengrund für den Glauben. Macht man diese Unterscheidungen — und ich sehe nicht, wie man sich ihnen entziehen kann —, dann erscheint ein Glauben an Gott heute entweder naiv oder unredlich. Ich finde es daher überflüssig, auf dieses Horn des Dilemmas weiter einzugehen.

a.a.O. S 193f. Hervorhebung von mir.

Diese Alternative steht zur Debatte, der Anspruch intellektueller Redlichkeit im Blick auf die Religion, denn genau darum geht es Tugendhat. Er steht in die Tradition der Aufklärung und folgt einem rationalen, Gründen und Evidenzen verpflichteten analytischen Denken. Dabei greift er bisherige metaphysische Positionen auf und überprüft sie kritisch, wieweit sie begründet oder, im Falle der Religion, eben illusionär sind, eben „entweder naiv oder unredlich“.

Tugendhat argumentiert in diesem Aufsatz nicht einfach distanziert als philosophischer Religionskritiker, sondern durchaus empathisch und subjektiv aufrichtig. Ich gehe hier nicht auf seine genauere Analyse und entsprechende Position zum Thema Religion und Mystik ein, dem er nicht nur hier in mehreren Beiträgen, sondern vor allem in seinem Buch „Egozentrizität und Mystik“ eine eingehende Auseinandersetzung widmet. Ich hake bei einer seiner sehr subjektiven Fragen ein, nämlich der nach dem Sinn und Bedürfnis zu glauben und zu beten. Vor allem das Gebet macht ihm zu schaffen, sieht er in ihm doch ein hilfreiches menschliches ‚Ventil‘ bei den Widerfahrnissen von Freude und Leid, aber eben ohne wirklichen Adressaten als ein nutzloses, illusionäres Surrogat. Ich frage, ob das so sein muss, ob diese Schlussfolgerung sowohl psychologisch als auch anthropologisch richtig ist. Ich bringe sogleich ein etwas ausführliches Zitat aus dem Zusammenhang der Erörterung, wie man mit Kontingenzerfahrungen umgeht, und der besonders in der Stoa und im Buddhismus geübten Hinnahme des Unvermeidlichen als des sich ‚Schickens‘ in sein Schicksal. Er zitiert dazu das bekannte „Gelassenheitsgebet“: «Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.» Wie ist diese Aufforderung zur Gelassenheit zu verstehen, wenn doch das Gegenüber der Anrede – Gott – tatsächlich fehlt? Sind ein solcher Glaube und ein solches Gebet nicht dennoch nachvollziehbar und menschlich gesehen gerechtfertigt? Ist es nicht besser, fragt er, „diese Deutung nur rein subjektiv als Ausdruck eines anthropologischen Bedürfnisses [zu] verstehen, und da erscheint es einfacher, wenn man das Unvermeidliche als von Gott gegeben ansieht“?

Tugendhat wendet sich einer weiteren Zuspitzung zu, die auch sein persönliches Empfinden betrifft.

Für mich persönlich ist der Widerspruch, von dem ich anfangs sprach, gerade in diesem Zusammenhang besonders eindrücklich. Ich empfinde es als so viel hilfreicher, anstelle der neutralen taoistischen oder stoischen Auffassung, aus einer Haltung des bhakti heraus mich an Gott zu wenden und zu sagen «Dein Wille geschehe», daß ich mir diese Rede explizit verbieten muß, weil ich doch weiß, daß Gott nur ein Konstrukt meines Bedürfnisses ist, und daß ich also, wenn ich mich von ihm bestimmen ließe, in eine Selbstlüge bzw. in eine Halluzination geriete. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf den unpersönlichen, rein mystischen Standpunkt zurückzuziehen, aber dieser Standpunkt erweist sich für mein Bedürfnis, eine positive Beziehung zu den Frustrationen zu gewinnen, als unzureichend. Ich spreche hier absichtlich in der 1. Person Singular, weil ich mir im unklaren darüber bin, wie weit in meinem Bedürfnis, sagen zu wollen «Dein Wille geschehe» wirklich ein anthropologischer Grundtatbestand zum Ausdruck kommt oder ob es nur an der Zufälligkeit liegt, daß ich in der jüdisch-christlichen Tradition aufgewachsen bin.

a.a.O. S. 200 f

Warum muss er sich diese Rede „Dein Wille geschehe“, obwohl hilfreich, zugleich aus Redlichkeit verbieten, um keiner Selbstlüge oder Halluzination anheim zu fallen? Der rein mystische, selbstbezügliche Standpunkt erweist sich für sein „Bedürfnis, eine positive Beziehung zu den Frustrationen zu gewinnen, als unzureichend“? Vorsichtig schränkt Tugendhat ein, dass dieses sein persönliches Empfinden nicht unbedingt „ein anthropologischer Grundtatbestand“ sein müsse, sondern auch seiner zufälligen Herkunft aus der jüdisch-christlichen Tradition entsprungen sein kann. Noch einmal: Warum muss er sich das Dank- oder Trostgebet „Dein Wille geschehe“ geradezu verbieten? Obwohl sachlich konsequent, leuchtet es mir dennoch nicht ein.

Dabei teile ich all seine rationalen und aufklärerischen Voraussetzungen, akzeptiere ohne weiteres die sachliche oder besser metaphysische Gegenstandslosigkeit (und damit Sinnlosigkeit) einer gehaltvollen Rede von Gott. Dennoch aber gibt es eine Möglichkeit, von Gott und religiösen Inhalten zu reden, die ihm nirgendwo in den Sinn gekommen zu sein scheint: die symbolische, bildhafte, künstlerische Rede in Dichtung, Lied und Erzählung oder die Vergegenständlichung in der Kunst, also zum Beispiel im Bildwerk oder in der Musik. Als symbolisch vermittelte Rede von etwas ansonsten nicht anders Vorfindlichem und Erreichbarem teilt die Religion, der Mythos, den Erfahrungsbereich der Kunst: bezogen zu sein auf die Wirklichkeit, aber dennoch nicht ihr Abbild oder direkter Gegenstand zu sein. Religiöse Rede hat es mit ebensolchen „Wirklichkeiten“ zu tun wie Kunst, Epos und Legende. Die Übergänge sind fließend. Einen Großteil wenn nicht alles in der biblischen Tradition kann ich nur in dieser Klammer, mit diesem Vorzeichen, nämlich als Symbol, als Kunst, als Mythos, aufnehmen, verarbeiten und weitergeben. Ein Lied kann trösten, ein Bild kann trösten (auch ohne offen religiösen Bezug), ebenso die Musik, und eben nicht nur die sogenannte „geistlich“ Musik, kann unübertrefflich trösten, aufbauen, mich über meine Situation, wie belastet auch immer, hinausführen und weitertragen. Warum nicht auch eine Bitte wie „Herr, Dein Wille geschehe“?

Die Ambivalenz der Anrede im Gebet bleibt: Reden mit jemandem, der als reales Gegenüber nicht vorhanden ist. Kann es nicht dennoch gehaltvolle, bedeutsame, tröstliche und mahnende An-Rede sein? Tugendhat strebt aus meiner Sicht mit dem strikten Begriff der Redlichkeit nach zu viel Eindeutigkeit und Festlegung. Empfindungen und Erfahrungen in jedem menschlichen Leben bestehen aber fast immer aus Mehrdeutigkeiten, Überlagerungen, Unschärfen, Fließendem, Ambiguitäten. Die Bereiche der Religion, der Mystik, der Kunst beziehen sich genau auf diesen Raum ambivalenter Vorstellungen, Erfahrungen und Empfindungen, allerdings selten oder nie auf Sinneserfahrungen oder gegenständliche Jenseitsvermittlungen: Der Überschritt zur Magie, zum Hokuspokus, zur Zauberei ist die Gefahr des Aberglaubens, des Spiritismus, wo man übergriffig wird, wo man das Symbolische, die nur indirekt vermittelte Wirklichkeit von Phantasie, Muse und Kunst, zur gegenständlich realen Wirklichkeit des Hier und Jetzt quasi physisch verzerrt – und verfehlt. Da ist nichts anderes als diese Symbolik von Kunst und Religion, und gerade dies ist in dieser speziellen Form eigentümlich, unersetzlich und hilfreich. Die ‚Seele‘ braucht das vielleicht gerade in dieser ambiguen Form zum Leben!

Ein Beispiel: Ich denke an viele Erfahrungen, wie tröstlich die gesprochenen Worte des Psalms 23 an Kranken- und Sterbebetten sind: aus meiner Sicht fast unersetzlich trostreich für Sterbende und Angehörige. Warum? Dieser Psalm zeichnet Bilder, unmittelbar berührend, weist einen Weg, bekräftigt eine Hoffnung.

Der gute Hirte
23 Ein Psalm Davids.

Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.

Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;

denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.

Du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

Lutherbibel 1984

Die Realität des Psalms bleibt symbolisch, bildhaft, ambivalent, aber die Erfahrung des Trostes ist konkret, real. Warum sollte das „unredlich“ sein? Die biblischen Texte, und nicht nur, wie Tugendhat anführt, die Liebesethik des Mystikers Jesus (a.a.O. S 188f), enthalten durchaus historische Bezüge, sind aber kein historischer Tatsachenbericht, und wollen es auch nicht sein. Gerade auch der oft so genannte „Schöpfungsbericht“ ist eben kein Bericht, sondern eine kunstvolle Dichtung mit weit ausgreifendem symbolischen Gehalt. Von den Psalmen ganz zu schweigen. Das gilt vermutlich auch für große Teile des Koran, der als staatlicher sanktionierter Gesetzestext nur verfehlt werden kann.

Diese Beispiele dienen der Verdeutlichung. So gebietet es die intellektuelle Redlichkeit aus meiner Sicht, die sachlich begründete und darum möglichst eindeutige Redeweise in Philosophie, Metaphysik und Anthropologie zu unterscheiden von der Ambiguität symbolischer Rede, von symbolisch vermittelter Erfahrung menschlicher Grundsituationen und Empfindungen, wie sie in Religion, Mystik und Kunst*) als anthropologischen Gegebenheiten zum Ausdruck kommen. Dann brauche ich mir auch keine religiöse Regung und kein Bedürfnis nach stillem Gebet aus falsch verstandener Ernsthaftigkeit zu verbieten. Im Gegenteil, es könnte sein, dass man im künstlerischen wie im religiösen Erleben und Agieren auf eine Weise Mensch sein kann, wie es sonst und anders nicht und nirgendwo möglich ist. Und darum gehören auch diese uneindeutigen Lebenswelten zu den „anthropologischen Grundtatsachen“.

*) Die Abgrenzung und Näherbestimmung des Verhältnisses von Kunst und Religion wäre noch einmal ein eigenes Thema.

Als PDF downloaden.

.art