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Platonische Anmerkung

Angeregt von einem Seitenblick auf den Platonismus, insbesondere den (erst seit dem 19. Jahrhundert) sogenannten Neuplatonismus, also der hellenistischen Blütezeit des Platonismus zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert mit Zentren in Rom, Athen und Alexandria, kommen mir einige Anmerkungen zum Thema des vorigen Blogbeitrags über Mentale Verursachung in den Sinn. Wie dort vorausgesetzt, beruht unser heutiges Weltbild im Wesentlichen auf einem Naturalismus, der seine Grundlagen in Physik, Chemie, Biologie usw. hat. Ereignisse und Entwicklungen in der Welt sind verknüpft durch materielle Ursachen und Wirkungen. Auf der Basis physikalischer Grundgegebenheiten, den Naturgesetzen und ihren Naturkonstanten, konnten die Naturwissenschaften, im Englischen „science“ schlechthin, einen Siegeszug der Menschheit ohne Gleichen antreten und die wissenschaftlich – technische Zivilisation hervorbringen, in der wir heute weltweit, ungeachtet einiger Nischen, leben. [Der gerade veröffentlichte Synthesebericht des Weltklimarates (IPCC) zeigt aber auch die enormen Folgen und Kosten der neuzeitlich – industriellen Entwicklung auf.] Aber abgesehen davon ist das naturwissenschaftliche Weltbild keineswegs so schlüssig, wie es oft zu sein behauptet. Im vorigen Artikel wurde ein wesentlicher Knackpunkt, eine Problemstelle dieses Weltbildes erörtert. Kurz gesagt ist es die Frage: Wie kommt die Natur auf den Geist? Wie ergibt sich aus der Physik Bewusstsein – und zwar Bewusstsein im Vollsinne, also nicht als Nebensache, „Epiphänomen“, sondern ursächlich aktiv und Wirkung zeigend, eben als „mentale Verursachung“? Von der natürlichen, materiellen Basis auszugehen, um von dort auf selbstbewusst handelnde, ‚freie‘ Wesen zu kommen, ist nicht ganz einfach, siehe Roger Penrose und die verschiedenen panpsychistischen Entwürfe, die damit Ernst machen wollen: Wenn man den Geist, das Bewusstsein nicht von Anfang an einbezieht und mitdenkt, bekommt man es später nicht mehr in die Physik hinein.

Man könnte auch gleich fragen: Warum kann es nicht umgekehrt sein? Warum könnte man nicht umgekehrt vorgehen? Und genau damit bin ich bei der Frage nach dem Denkweg des Platonismus, speziell in seiner reifen, Platon, Aristoteles, Plotin umfassenden Ausprägung, dem Neuplatonismus, damals im Hellenismus eine der weltbewegenden Ideenschulen. Der philosophische Idealismus des 19. Jahrhunderts hat diese Gedanken wieder aufgegriffen, wiewohl sie nie verschwunden waren. Aber in diesen Anmerkungen hier übergehe ich diese Entwicklung und wende mich direkt dem klassischen Neuplatonismus zu. Einen glänzenden Einstieg dazu bietet Christian Wildberg in seinem Artikel der Stanford Enzyklopädie zum Stichwort „neoplatonism“. Ich verweise dort auf seine allererste knappe Kennzeichnung (auf Seiten 2 und 3 PDF) des neuplatonischen Denkansatzes, ehe er seine Giederung vorstellt. Zwei englische Begriffe sind der Schlüssel zu einer fast unmittelbarer Aktualität: nämlich den griechischen „Nous“ mit „consciousness“ (mindful consciousness, intellect) zu übersetzen und das „Hervorbringen, hyphistemi“, nicht, wie üblich mit „emanatio“, Emanation, sondern mit „emergence“, Emergenz wiederzugeben. Bei Letzterem handelt es sich nämlich mehr um eine ontologische Abhängigkeit als um einen zeitlichen Prozess. Und „(mindful) consciousness, (Selbst-)Bewusstsein“ zeigt sogleich das reflexive Moment im Begriff des „Nous“ an, der im Begriff „intellect“, Geist fehlt. So zeigt sich in der platonischen Denkweise eine bestimmte ontologische Struktur, die fast wie eine Umkehrung des naturwissenschaftlich-physikalischen Denkens aussieht:

Neoplatonic philosophy is a strict form of principle-monism that strives to understand everything on the basis of a single cause that they considered divine, and indiscriminately referred to as “the First”, “the One”, or “the Good”. Since it is reasonable to assume, as the Neoplatonists did, that any efficient cause is ontologically prior to, and hence more real, than its effect, then, in the hierarchy of being, the first principle, whatever it is, cannot be less “real” than the phenomena it is supposed to explain. Given the veracity of the first assumption (the ontological priority of intelligence and consciousness), it follows at once that the first principle must be a principle of consciousness. In consequence, the fundamental challenge all Neoplatonists struggled to meet was essentially the following: How are we to understand and describe the emergence of the universe, with all its diverse phenomena, as the effect of a singular principle of consciousness? In particular—and in this regard Neoplatonism shares certain concerns with modern cosmology —how is it possible to understand the emergence of the physical, material universe from a singularity that is in every sense unlike this universe?

https://plato.stanford.edu/archives/win2021/entries/neoplatonism/ (PDF S. 3)

Der kleine Abschnitt von Christian Wildberg übersetzt:

Die neuplatonische Philosophie ist eine strenge Form des Prinzipienmonismus, die alles auf der Grundlage einer einzigen Ursache zu verstehen sucht, die sie als göttlich ansah und unterschiedslos als „das Erste“, „das Eine“ oder „das Gute“ bezeichnete. Da es vernünftig ist, wie die Neuplatoniker anzunehmen, dass jede wirksame Ursache ontologisch vor ihrer Wirkung steht und daher realer ist als diese, kann in der Hierarchie des Seins das erste Prinzip, was auch immer es ist, nicht weniger „real“ sein als die Phänomene, die es erklären soll. Aus der Richtigkeit der ersten Annahme (der ontologischen Priorität von Intelligenz und Bewusstsein) folgt sofort, dass das erste Prinzip ein Prinzip des Bewusstseins sein muss. Die grundlegende Herausforderung, mit der alle Neuplatoniker zu kämpfen hatten, war daher im Wesentlichen die folgende: Wie sollen wir die Entstehung des Universums mit all seinen vielfältigen Phänomenen als Wirkung eines einzigartigen Bewusstseinsprinzips verstehen und beschreiben? Insbesondere – und in dieser Hinsicht teilt der Neoplatonismus gewisse Bedenken mit der modernen Kosmologie – wie ist es möglich, die Entstehung des physischen, materiellen Universums aus einer Singularität zu verstehen, die in jeder Hinsicht anders ist als dieses Universum?

übersetzt mit Deepl.com

Wildberg weist selber auf die Parallele hin, physisch-materielle Realität mit intelligentem Bewusstsein zusammenzubringen: Die Platoniker gehen vom ontologischen Vorrang des Einen als Intellekt und Bewusstsein aus, die naturalistische Weltsicht geht vom substanziellen Vorrang von Materie, Energie, Feld aus. Die Neuplatoniker stellen in ihrem Denken die Welt dar als strukturellen Übergang vom Einen zum Vielen, vom (Selbst-) Bewusstsein des Einen zur Emergenz des Geistes, der Seele und der Natur. In Letzterer ist auch die Materie enthalten, die allerdings nur in ihrer Verbindung mit der Menschenseele zur Selbstreflexion und damit zur Erkenntnis ihrer Rückbindung an das ursprüngliche Bewusstsein des Einen, Einzigartigen fähig ist. Denn das ist der eigentlich Clou dieser platonischen Denkfigur, dass die Struktur der Emergenz das ihm Zugrundeliegende stets mitbeinhaltet und sich dieses in der reflexiven Wendung bewusst machen kann. Nur die Materie kann das für sich genommen nicht, – und das ist hier der ungelöste Knackpunkt. Sie wird von Plotin zwar immer noch strukturell als des Einen teilhaftig befunden, aber nur in der Form des äußersten Endes, des Gegenpols zum Einen, Guten, – die Konnotation der Materie als des Bösen, von dem es sich zu befreien gilt, liegt nahe, trifft aber doch daneben. In der Reflexion des Selbstbewusstseins, des Geistes / Intellekts der Vielheiten, des Menschen aus Leib (Natur) und Seele, wird zugleich die zusammenhängende Struktur und durchscheinende Vermittlung / Emergenz des Einen, Ganzen / Guten sichtbar und als Aufgabe (Ethik) erkennbar: sich dem Einen, Guten zuzuwenden. Es ist diese für den Neuplatonismus typische doppelte Bewegung: nach außen das Heraussetzen / Emergieren einer weiteren Form, nach innen die Rückbindung / Selbstreflexion an den gemeinsamen Grund.

Es ist eine beeindruckende, aber auch schwierige Denkfigur, die den Phänomenen in Natur (und Gesellschaft!) nicht wirklich gerecht werden kann; eine ‚Naturwissenschaft‘ kann sich schwerlich daraus entwickeln. Aber zu kritisieren scheint hier allzu leicht, und Vorsicht oder besser Zurückhaltung ist geboten, solange der ‚Gegenbeweis‘ aussteht: eine konsistente Theorie einer selbstbewussten Materie, einer ‚mentalen Ursächlichkeit‘, das heißt der Einholung und Einbettung von Seele und Geist in die Strukturen der Natur. Das bloße Nebeneinander von Disziplinen (Physik, Chemie, Biologie, Kosmologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie usw.) reicht dafür ganz gewiss nicht aus.

Nur dies möchte ich hier also anmerken: Wäre es nicht gut und sinnvoll, diese beiden Denkbewegungen / Denktraditionen zusammenzubringen, zusammenzudenken? Scheint schwierig, – und doch: Könnte das Denken zusammen mit Penrose und Plotin hin auf die ursprüngliche Singularität, der das All und Alles entspringt, der es zugleich struktur-ontologisch verbunden ist, zwar abenteuerlich scheinen, aber vielleicht ein bisschen mehr ‚wahr‘ sein?


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