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Wissenschaftstheorie der Pandemie I

Zwei Bereiche der Biowissenschaften, die evidenzbasierte Medizin (EBM) und die Epidemiologie, sind bei einer wissenschaftsphilosophischen Betrachtung der Medizinpraxis, insbesondere bei der Bewältigung der Pandemie, von Bedeutung. Wenn man die vergangenen 18 Monate anschaut, war ja nicht nur in der Bevölkerung die Verunsicherung über dieses neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 groß, sondern ebenso sehr in der medizinischen Wissenschaft, bei den Virologen und Epidemiologen. Zwar hatten Virologen schon länger Coronaviren wie SARS und MERS im Fokus ihrer Aufmerksamkeit, und auch die WHO hat hinlänglich vor drohenden weltweiten Epidemien, also Pandemien, gewarnt. Aber so richtig wusste man nicht, was da auf einen zukommt und um was genau es sich bei diesem speziellen Virus handelt. Noch heute erlebt die Wissenschaft immer wieder Überraschungen, was SARS-CoV-2 angeht: Herkunft, Aufbau, Wirkungsweise und die Auswirkungen der jeweiligen Veränderungen (Mutationen) des Virus führen immer wieder in „Neuland“. Wie geht die Wissenschaft damit um?

Pandemie und klinische Versorgung (c) LUCAS BÄUML @faznet

Besonders die evidenzbasierte Medizin (EBM) sieht sich vor eine besondere Herausforderung gestellt: Es gab anfangs kaum verlässliche Daten, keine nachgewiesenen und erhärteten Evidenzen im herkömmlichen Sinn. EBM ist ein seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weltweit akzeptiertes Konzept wissensbasierter Medizin:

Evidenzbasierte Medizin (EbM), entlehnt von englisch evidence-based medicine „auf empirische Belege gestützte Heilkunde“, ist eine jüngere Entwicklungsrichtung in der Medizin, die ausdrücklich die Forderung erhebt, dass bei einer medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen. Die wissenschaftliche Aussagefähigkeit klinischer Studien wird durch Evidenzgrade beschrieben. Die Evidenzbasierte Medizin soll eine „patientenzentrierte Wissenschaftlichkeit“ fundieren.

https://de.wikipedia.org/wiki/Evidenzbasierte_Medizin#cite_ref-Sackett_7-0

Im grundlegenden Textbuch „Evidence-based Medicine: How to Practice and Teach EBM“ von 2005 heißt es:

Evidence-based medicine (EBM) is the integration of best research evidence with clinical expertise and patient values. By best research evidence we mean clinically relevant research, often from the basic sciences of medicine [„mechanistic reasoning“], but especially from patient-centered clinical research into the accuracy and precision of diagnostic tests (including the clinical examination), the power of prognostic markers, and the efficacy and safety of therapeutic, rehabilitative, and preventive regimens.New evidence from clinical research both invalidates previously accepted diagnostic tests and treatments and replace them with new ones that are more powerful, more accurate, more efficatious, and safer.

Jeremy Howick, The Philosophy of Evidence-Based-Medicine, Oxford 2011, S. 22

Bei den „Evidenzgraden“ (Wikipedia) bzw. „diagnostic tests“ (Howick) handelt es sich um ein abgestuftes System der Bewertung von Qualitätsmerkmalen von „evidence“ (evidence im Englischen hat je nach Kontext die Bedeutungen ‚Beweis‘, ‚Beleg‘, ‚Hinweis‘ oder ‚Zeugenaussage‘, Wikipedia). Die U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF) formulierte 1989:

Level I: Evidence obtained from at least one properly designed randomized controlled trial.
Level II-1: Evidence obtained from well-designed controlled trials without randomization.
Level II-2: Evidence obtained from well-designed cohort studies or case-control studies, preferably from more than one center or research group.
Level II-3: Evidence obtained from multiple time series designs with or without the intervention. Dramatic results in uncontrolled trials might also be regarded as this type of evidence.
Level III: Opinions of respected authorities, based on clinical experience, descriptive studies, or reports of expert committees.

https://en.wikipedia.org/wiki/Evidence-based_medicine#Assessing_the_quality_of_evidence

Hinzu kommt noch das oben zitierte „mechanistic reasoning“, also der Kausalitätsnachweis zum Beispiel bei der Wirksamkeit und Wirkweise von Medikamenten und bei therapeutischen Maßnahmen. Zwar hat es in der Folgezeit auf Grund von Kritik eine stärkere Gewichtung der klinischen Praxis (Erfahrung) und der besonderen Umstände des einzelnen Patienten (Patientenzentriertheit) gegeben, aber die „randomized controlled trials“ (RCT) sind nach wie vor der Goldstandard der EBM.

In der modernen Epidemiologie kommen noch zwei weitere Aspekte hinzu, die zum Teil mit den Prinzipien der EBM verzahnt sind: Kausalprozesse abzugrenzen und begründete Voraussagen zu treffen.

Hence, a science-based approach to causation should consider two kinds of questions with respect to causation: not only questions with respect to an appropriate conceptualization of ‘cause’ given the goals, interests and methods of given scientific disciplines; but also questions with respect to the metaphysical presuppositions of the different methods of causal inference used in the different scientific disciplines. [347]

In sum, given epidemiologists’ goals and methods, the focus lies at the population level. Causation in epidemiology should be interpreted in terms of average influences at the population level, and in terms of the possible manipulation of the presence of responsible factors at this level. [348]

It does not lie within the goals and skills of epidemiology to predict individual disease courses. Nonetheless, good epidemiological research delivers causal information that is useful given the public health goals. [350]

Not only is it important to think about which causal concepts are useful for epidemiological practice, one should also gain knowledge on the metaphysical presuppositions of the causal concepts used for causal inference in epidemiology to become aware of the limitations of methods used to gather causal information. [353]

Leen de Vrese, Epidemiology an causation in: Med Health Care and Philos (2009) 12:345–353. Springer 2009

Wenngleich in der Epidemiologie die zugrundeliegende Kausalität biologischer Prozesse nur auf dem allgemeineren ‚Gruppenlevel‘ (population level) abbilden kann, ist das Verständnis der Kausalprozesse auf biologischer Ebene eine Voraussetzung für sinnvolle und begründete Voraussagen und somit erfolgversprechende therapeutische Maßnahmen. Voraussagen (prediction) hängen darum eng mit möglichen Interventionen zusammen, also mit der heilsamen Manipulation der zugrundeliegenden Prozesse.

But over and above the mathematics, a number of striking theses about causation are evident, for example: that a cause is something that makes a difference; that a cause is something that humans can intervene on; and that causal knowledge enables one to predict under hypothetical suppositions.

Alex Broadbent, Causation and prediction in epidemiology: A guide to the
“Methodological Revolution” in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 54 (2015) 72-80, Elsevier 2015

Damit sind die entscheidenden Faktoren und Aspekt benannt, die eine wissenschaftsbasierte Medizin und Epidemiologie fundieren: evidenzbasierte Forschung insbesondere mit RCTs und (vergleichenden) Kohorten-Studien, Erforschung der kausalen Mechanismen (und nicht nur statistischer Korrelationen) biologischer Prozesse als Voraussetzung für klinische Voraussagen, um im konkreten Einzelfall genau spezifizierte therapeutische Maßnahmen zur Heilung ergreifen zu können.


Keiner der angeführten Punkte ist unstrittig, jeder Aspekt bedarf genauerer Untersuchung und Nachfrage. Zu allem liegen ausführliche und kontroverse Diskussionen und Positionen vor. Dennoch repräsentieren diese Punkte in etwa den Mainstream der gegenwärtigen wissenschaftlichen Medizin (EBM).

Die Kritik einer klinischen rein erfahrungsbasierten Medizin beruht auf der Rolle der Vorurteile (bias), die Erfahrungsmodelle stets begleiten, wogegen der Aufweis kausaler Mechanismen und kontrollierte Studienergebnisse eine objektivere Basis, genauer: Evidenzen bieten. Wie eng der Evidenzbegriff gefasst werden muss, bleibt diskussionsbedürftig. Immerhin werden in der Literatur Beispiele für ‚evidente Wirksamkeit‘ genannt, die weder aus RCTs noch aus der genauen Kenntnis der kausalen Mechanismen abgeleitet sind. So ist die Nützlichkeit von Fallschirmen, um schwere Verletzungen und Tod zu vermeiden, mit dem Augenschein hinreichend begründet. [„In some cases, randomised studies are not required to establish a causal claim… From the point of view of contemporary EBM, the evidence for the effectiveness of parachutes is very weak: no systematic studies, let alone RCTs, and some mechanistic evidence which sits at the bottom of the evidence hierarchy, if it features at all.“ Jon Williamson (2019) Establishing Causal Claims in Medicine, International Studies in the Philosophy of Science, 32:1, 33-61] Ein anderes Beispiel ist das Schmerzmittel Aspirin, Acetylsalicylsäure: Wiewohl die Wirksamkeit des Medikaments unbestritten ist, fehlt doch die Kenntnis des kausalen Mechanismus oder gar RCTs zum Nachweis der Evidenz. Kein Pharmaunternehmen würde aber angesichts der offensichtlichen Wirksamkeit für solche Studien Geld aufwenden. Williamson schlägt darum mit guten Gründen eine „EBM+“ vor, die Erfahrungswerten insbesondere im klinischen Umfeld wieder größere Bedeutung beimessen will.

Es gibt weitere Gesichtspunkte dafür, dass eine enggefasste EBM nicht als alleiniger Maßstab für erfolgreiche medizinische Interventionen ausreicht. Der Verlauf der Pandemie hat zudem gezeigt: Die Praxis läuft der Theorie davon. Das dokumentiert unfreiwillig das Deutsche Netzwerk evidenzbasierte Medizin e.V.. Bemerkenswert ist die Stellungnahme des EbM-Netzwerks vom 20.03.2020. Aus heutiger Sicht klingt vieles wie eine Steilvorlage für die Querdenker-Bewegung. Darin heißt es:

Über die (eher fragwürdigen) Schlüsse aus dem historischen Beispiel [St. Louis / Philadelphia 1918] hinaus gibt es wenig Evidenz, dass NPIs [nicht-pharmakologische Interventionen] bei COVID-19 tatsächlich zu einer Verringerung der Gesamtmortalität führen. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2011 fand keine belastbare Evidenz für die Effektivität von Screening bei Grenzkontrollen oder Social Distancing, allerdings in erster Linie aufgrund fehlender Studien und mangelhafter Studienqualität. Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2015 findet moderate Evidenz für Schulschließungen, um die Ausbreitung einer Influenza-Epidemie zu verzögern, allerdings verbunden mit hohen Kosten. Isolation im Haushalt verlangsamt zwar die Ausbreitung, führt aber zur vermehrten Infektion von Familienangehörigen. Bei all diesen Erkenntnissen stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit von der Influenza auf COVID-19. Es ist gänzlich unklar, wie lange die NPIs aufrechterhalten werden müssen und welche Effekte in Abhängigkeit von Zeit und Intensität damit erzielt werden könnten. Möglicherweise wird die Zahl der Toten nur auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, ohne dass sich an der Gesamtzahl etwas ändert. Im Gegensatz zur saisonal verlaufenden Grippe wissen wir nicht, wie sich SARS-CoV-2 weiter verhalten wird, ob das nahende Frühjahr auf der Nordhalbkugel zu einem natürlichen Stopp der Ausbreitung führen wird oder ob das Virus sich kontinuierlich und zeitlich unbegrenzt weiter ausbreiten wird, bis ein Großteil der Menschheit die Infektion durchgemacht hat und immun geworden ist. Letzteres erscheint derzeit eher wahrscheinlich.

https://www.ebm-netzwerk.de/de/medien/pdf/stn-20200320-covid-19-ebmnetzwerk.pdf

Die Stellungnahme wurde heftig kritisiert und diskutiert, gerade auch unter Virologen und Epidemiologen, die aktiv mit Politikberatung befasst waren wie z.B. Prof. Christian Drosten. Daraufhin hat das EbM-Netzwerk seine Stellungnahme überarbeitet und versucht zu entschärfen bzw. verständlicher zu machen. Die wesentlichen Aussagen bleiben aber erhalten.

Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz, weder zu COVID-19 selbst noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen, aber es ist nicht auszuschließen, dass die trotz weitgehend fehlender Evidenz ergriffenen Maßnahmen inzwischen größeren Schaden anrichten könnten als das Virus selbst. Jegliche Maßnahmen sollten entsprechend wissenschaftlich begleitet werden, um den Nutzen und Schaden bzw. das Verhältnis von Nutzen und Schaden zu dokumentieren. Es werden insbesondere randomisierte Studien dringend benötigt um die politischen Entscheidungen angemessen zu stützen.
Mit dieser ausführlichen Stellungnahme möchten wir anregen, mit kritischem Blick aus der Perspektive der evidenzbasierten Medizin den derzeitigen Umgang mit SARS-CoV-2 und der möglicherweise resul-tierenden Erkrankung COVID-19 zu hinterfragen, um daraus Schlussfolgerungen für die Wissenschaft und den Umgang mit dem Virus zu entwickeln.

https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-20200903-covid19-update.pdf

Eine grundsätzliche Kritik an der Position des EbM-Netzwerks publizierte die kritische Webseite MedWatch (Wissenschaftsjournalist Hinnerk Feldwisch-Drentrup):

Ausgerechnet bei Stellungnahmen des Deutschen Netzwerks für evidenzbasierte Medizin gibt es mehrere Aussagen, die falsch, irreführend und unbelegt sind – oder auch als Verschwörungstheorie angesehen werden können. Das Netzwerk erklärte zeitweilig sogar, derzeit seien keine einschneidenden Maßnahmen nötig, die über die übliche Hygiene hinausgehen. Fragen von MedWatch ließ es größtenteils unbeantwortet.

/medwatch.de/2020/09/17/angesehener-fachverband-verbreitet-irrefuehrende-infos-und-fragwuerdige-empfehlungen/?cn-reloaded=1

Es steckt manches Ideologische in den Stellungnahmen des EbM-Netzwerks, auf das MedWatch zu Recht hinweist und das hier nicht weiter erörtert werden muss. Aber im Grunde beharrt das Netzwerk ’nur‘ auf den weltweit anerkannten Prinzipien der EBM, nämlich „Evidenz“ strikt zu verstehen als begründet durch Randomized Controlled Trials, Kohorten-Studien sowie durch abgeklärte (peer view) und durch Überprüfung erhärtete Daten in fachwissenschaftlich veröffentlichten Studien. All das lag in den Anfangsmonaten der Pandemie natürlich nicht vor, noch heute, fast 18 Monate später, sind Studien, die den strikten Qualitätsnormen der EBM entsprechen, selten. Es hilft wenig ein Standard, der zwar für die Erprobung und Bewertung neuer Medikamente und Therapien angemessen ist, der aber offensichtlich der aktuellen Situation einer Pandemie und der möglichen und erforderlichen „nicht-pharmakologischen Interventionen“ (NPI) überhaupt nicht gerecht wird.

Beispielhaft ist dagegen das, was neben manchen anderen Prof. Drosten in dem NDR-Podcast wieder und wieder geduldig und fachkundig geleistet hat: Das was an Studien oft mit heißer Nadel gestrickt und auf PrePrint-Servern veröffentlicht wurde – welcher interessierte Laie hatte bis dahin jemals etwas von solchen PrePrint Servern gehört, die nun im medizinischen Bereich massenhaft Studien durchaus auch fragwürdiger Herkunft und Qualität neben Hochwertigem und Beachtenswertem auf den publizistischen Markt warfen? – zu sortieren, das gut Gemachte herauszufinden und für ein breites interessiertes Publikum zu bewerten, Daten auch in ihrer Vorläufigkeit einzuordnen und für Argumentationen bereitzustellen, – kurz, um ‚der Politik‘ Hilfen zum Verständnis und zur Entscheidungsfindung an die Hand zu geben. Man muss das erklärterweise „evidenzbasiert“ nennen, und „Evidenz“ ist eines der am häufigsten vorkommenden Begriffe in allen Drosten-Podcasts (siehe Suchfunktion für den Gesamttext), auch wenn der hier verwendete Evidenzbegriff seht viel umfassender ist als im Bereich herkömmlicher EBM. Dieses Aufeinandertreffen unterschiedlicher Konzepte stellt de facto so etwas wie eine Bewährungsprobe dar für das, was das Konzept EBM leisten kann und was nicht: Unabdingbar für wissenschaftlich Grundlagenforschung, praktisch folgenreich (und erfolgreich!) gegen Konstrukte sogenannter „alternativer Medizin“, aber eben keine Allzweckmethode zur Bewältigung konkreter medizinischer, insbesondere epidemiologischer Fragen im Rahmen einer sich aktuell weiterentwickelnden und keineswegs beendeten Pandemie SARS-CoV-2.

Inzwischen hat sich auch die EBM zusammen mit der kausalitätsorientierten und prediktiven Epidemiologie weiterentwickelt, aber vielleicht anders als erwartet: Sie hat das Konzept der „P4- medicine“ („predictive, preventive, personalized and participatory“) entwickelt, heute besser bekannt als precision medicine. Dieses Konzept mit tiefgreifenden Voraussetzungen und weitreichenden Auswirkungen wird im nächsten Beitrag dargestellt.


Anmerkung

Dieser Beitrag geht zurück auf das Seminar „Philosophie der Epidemiologie und der evidenzbasierten Medizin“ von Prof. Dr. Ulrich Krohs, WWU Münster, im Sommersemester 2021.
Zwei Buchtitel , die einen fundierten Einstieg und Überblick geben:

  1. Jeremy Howick, The Philosophy of Evidence Based Medicine, 2011 by Blackwell Publishing Ltd. (Centre for Evidence-Based Medicine Department of Public Health and Primary Care University of Oxford Oxford, UK)
  2. Alex Broadbent, University of Johannesburg, South Africa, Philosophy of Epidemiology, 2013 by Palgrave Macmillan

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