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Vernunft und Universalität

Glück, Achtsamkeit, Selbstfindung, Liebe und Schmerz sind klassische Themen der populären Philosophie, die seit der Stoa nie an Aktualität verloren haben. Darüber hinaus bewegen ethische Themen wie die Frage nach dem Recht auf selbstbestimmtes Leben und Sterben, während der Pandemie die Abwägung, welche Patienten in einer Situation knapper Ressourcen bevorzugt werden sollen (Triage) und die Diskussion über Bedeutung und Reichweite individueller Freiheitsrechte angesichts ihrer zeitweisen Einschränkung. In intellektuellen Kreisen und Medien stehen aktuell Debatten über Identität, Diversität und Kultur im Vordergrund anlässlich von drängend empfundenen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern, angesichts eines virulenten Rassismus und der Bewusstwerdung über das Ausmaß des Kolonialismus (Postkolonialismus). Wie kann man sich in diesem weiten Themenfeld, das zum Minenfeld geworden ist, orientieren?

Aristoteles beginnt seine „Metaphysik“ mit dem Satz: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“ Wissen ist auf Wahrheit angewiesen, denn was nicht wahr ist, ist auch kein Wissen, sondern bloße Meinung, – ein Fürwahrhalten, ohne zu wissen. Wissen wird darum in der Philosophie als durch gute Gründe gerechtfertigte Überzeugung definiert. Wie diese Definition des ‚Wissen dass‘ genau zu formulieren ist, was als Rechtfertigung gelten darf und welcher Art gute oder gar sichere bzw. gewisse Gründe dafür sein können, ist ein weites Feld der philosophischen Erörterung. Damit beschäftigt sich die analytische Erkenntnistheorie. Je genauer man aber analysiert, desto klarer wird, dass es keine letzte Gewissheit für Wissen geben kann, weil die Möglichkeit des Irrtums niemals ausgeschlossen werden kann. Das macht es aber noch lange nicht überflüssig oder nutzlos, nach möglichst eindeutigen Kriterien zu suchen, was gerechtfertigte Überzeugung ausmacht, etwas wirklich zu wissen. Man erkennt, dass Streben nach Wissen, wie Aristoteles es formuliert, keine isolierte und abstrakte Unternehmung ist, sondern eine soziale, öffentliche Tätigkeit, die auf geistigen, kulturellen Austausch angewiesen ist und dadurch so etwas wie Wissenschaft erst konstituiert. Auf Überzeugungen beruhendes Wissen muss nicht nur ‚vernünftig‘ sein, insofern es der eigenen Vernunft genügt, sondern es muss vor anderen gerechtfertigt werden können und vor dem Forum der Vernunft anderer nach Wissen Strebender begründet und nachgewiesen werden. Streben nach Wissen ist darum nur als kommunikativer Prozess zu verwirklichen. Was ich nur für mich selber denke und in mir ausbrüte, braucht niemanden zu interessieren – und es ist dann auch nur ‚meine Meinung‘. Zum Wissen gehört also allgemeine Anerkennung und Gültigkeit, wenn andere Menschen Gründe und Rechtfertigungen von Gegenständen des Wissens nachvollziehen und teilen können – oder eben aus dann ihrerseits beizubringenden guten Gründen bestreiten wollen. Erkenntnis gibt es nur in Rede und Gegenrede, mit Argument und Gegenargument auf der Basis gemeinsamer Vernunft. Ohne solche intersubjektive Anstrengung des Geistes und der Arbeit des Begriffs gibt es weder Erkenntnis noch Wissen.

Nun ist das mit der Vernunft aber so eine Sache. Zwar wird der Mensch traditionell als animal rationale (zoon logon echon, Aristoteles), bestimmt, also als Vernunftwesen oder Lebewesen, das mit Vernunft begabt ist, aber inwiefern ihm Vernunft gemeinschaftlich eignet und wie sie genau strukturiert ist, wird durchaus unterschiedlich gesehen. Eine lange Tradition in Ost und West sieht die Fähigkeit zu abstrakter Verstandestätigkeit mit allgemeinen Begriffen und Operationen (Ideen, Zahlen, Logik) als gemeinschaftliche Basis der Vernunft, die aber unterschiedlich ausgebildet sein kann. Darum hat Immanuel Kant diese Bestimmung abgewandelt in animal rationabile, also der Mensch als ein Lebewesen, das der Vernunft fähig ist, vernünftig werden kann. Hier setzt seine berühmte Erklärung ein: Was ist Aufklärung? (1784):

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung

https://de.wikisource.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist_Aufkl%C3%A4rung%3F

Der Verstand ist also anzuleiten, die Vernunft versteht sich nicht von selbst, und die Frage ist nun, wer anleitet, und mit welchem Ziel. Klar ist, dass jedes Kind fast alles zum Leben Notwendige zuerst von den Eltern lernt – beim Menschen wie bei den meisten Lebewesen -, die das Menschenkind eben auch zum Sprechen und Denken anleiten, allein dadurch, dass Eltern ihr Kind ansprechen, mit ihm liebevoll umgehen und ihm ‚alles zeigen‘. Ziel ist offenbar wie bei allen anderen fundamentalen Fähigkeiten, die eigene Lebensfähigkeit des Nachwachsenden in seiner umgebenden Welt zu wecken und zu fördern. Dann hört es mit den Selbstverständlichkeiten aber schon auf. Für Kant ist wesentliches Ziel des Menschseins, nicht unmündig, also unter Vormundschaft zu bleiben, sondern sich seines eigenen Verstandes bedienen zu lernen, um selbständig zu denken. Dazu, so Kant, bedarf es eines gewissen Mutes. Warum denn, wenn doch die Vernunft zur wesentlichen und allgemeinen Grundausstattung des Menschen gehört? Offenbar geht es um den rechten Gebrauch des Verstandes, um die selbständige Bildung der Vernunft und die Kraft ihrer Urteile. Das ist der Punkt, der eine kritische Grenze anzeigt: Geht es bei dieser Anleitung zum Denken um die Anpassung und Einfügung in überkommene Denkformen und traditionelle Denkschemata oder darum, größtmögliche Selbständigkeit des Denkens zu gewinnen? Ist das überhaupt eine Alternative?

Kant war dieser Meinung, und heute sind ebenfalls viele dieser Meinung, allerdings mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Gehen wir es nacheinander durch. – Traditionalistische Auffassungen sahen und sehen als Aufgabe von Erziehung und Verstandesbildung die Einfügung und Eingewöhnung des jungen Menschen in die Denkweisen und Verhaltensmuster der Eltern- oder Vorfahrengenerationen. Lebenstüchtigkeit erweist sich dann in der Übernahme des Erfahrungsschatzes der Vorangehenden, zusammen mit den Kriterien zur Beurteilung dessen, was recht und billig ist, wo sich also der gesellschaftliche Ort befindet, den der heranwachsende Mensch einzunehmen hat. Eine bestimmte Unmündigkeit ist Teil des Konzeptes, zum vermeintlichen Besten des Menschen. Die Aufklärung sieht darin eine unangemessene Beschränkung der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten und will darum die Mündigkeit, die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des verständigen und vernunftbegabten Menschen. Es ist dies die Skizze desjenigen Konzepts, das wir in der westlich-europäischen Kulturentwicklung besonders ausgebildet und schätzen gelernt haben: Das vernünftige ‚gebildete‘ Individuum, das seinen eigenen Verstand gebraucht zum eigenen Nutzen und hoffentlich dann auch zum Nutzen der Allgemeinheit. Mut war und ist dann nötig, wenn Strukturen aus Macht und Tradition die Selbständigkeit des Denkens und Urteilens verhindern wollen, weil ein freier Geist für Mächtige gefährlich werden kann. Die Diktaturen der Gegenwart zeigen das jeden Tag aufs Neue.

Es gibt aber noch eine andere Ansicht zur Art dieser Prägung, die der Mensch innerhalb seiner Umwelt und Kultur, in der Gruppe der Angehörigen oder Zugehörigen teils bewusst, großenteils aber unbewusst erhält. Jetzt sind wir beim Thema der sozialen Konstruktion, ein Thema, das heute mit dem Stichwort Identität großen Raum und Widerhall gefunden hat. Was wenn das mit dem ‚freien Geist‘ nur eine Fiktion wäre, wenn die Selbständigkeit nur auf einer großen Selbsttäuschung beruhte, weil mich im Grunde die sozialen, kulturellen und gendermäßigen Leitplanken der traditionellen Herkunftsüberzeugungen in gruppenspezifischen Schranken unentrinnbar festhielten? Da wird dann ein Weißer zugleich mit der kolonialen Weltsicht geboren und der Farbige als der immer schon Unterdrückte und Ausgegrenzte, dessen Selbstverständnis und Selbstdefinition nur er / sie selbst authentisch leisten kann – und nicht irgend eine allgemeine Vernunft.

Ohne das hier weiter auszuführen – es ist sicher etwas dran an dieser Sichtweise. Denn niemand kommt als tabula rasa auf die Welt, wir werden immer schon in bestimmte Verhältnisse hineingeboren, auf der Sonnen- oder mehr auf der Schattenseite der Gesellschaft, mit ebenso bestimmenden Prägungen und Erziehungsleistungen der Eltern. Das ist selbstverständlich so und gar nicht anders zu haben. Es ist die eine Seite, zu der die Bildung und Erziehung zur Mündigkeit, Urteilsfähigkeit und Eigenverantwortung hinzutreten muss als die zweite Seite. Nur dann werden Kinder mehr als die Abziehbilder ihrer Eltern.

Aber jetzt wird diese Ansicht einseitig betont und radikalisiert. Es ist aber nur scheinbar radikal, weil es eigentlich eine Rückkehr zu einem sehr alten und altbekannten Denkschema ist, das die Gruppenidentität zur exklusiven Grundlage der eigenen Identität macht. Clans und Stämme (= Familienverbände) dachten und denken so, und verhalten sich auch so. Wer heute die Gruppe, ihre Besonderheit, ihren Kodex, ihre vermeintliche oder wirkliche Diskriminierung absolut setzt, das heißt allein ausschlaggebend sein lässt für die Beurteilung anderer Menschen und Gruppen sowie der eigenen Umwelt insgesamt, befindet sich auf dem Weg zu den Parallelgesellschaften der Clans (egal welcher nationalen Eigendefinition) oder zu den völkischen Segregationen, wie wir sie aus den vergangenen Jahrhunderten kennen und im Faschismus enden sahen. Da schlägt die vermeintlich emanzipative Identität und Diversität in gruppenegoistischen Furor um. Psychologisch kann man es vielleicht als Regression bezeichnen. Wenn dabei andere Gruppen oder Einzelne moralisch oder sozial unter Druck gesetzt werden (wofür es inzwischen genug Beispiele gibt), wird daraus das altbekannte Spiel der Macht, der Dominanz, um die Grenzen dessen zu setzen, was geht und was nicht, was erlaubt ist und was nicht, was gedacht und gesagt werden darf und was nicht. Bei der Hochstilisierung der Identitäten verlieren ‚links‘ und ‚rechts‘ ihre Bedeutung, und wo es um Macht und Deutungshoheit geht, hat sich die Vernunft schon längst verabschiedet. – Im Blick auf die Schwulenbewegung, aber durchaus zu verallgemeinern auf die Bewegung der Identitären, schreibt Alexander Zinn:

Befremdlich ist das Selbstbild, das damit einhergeht. Wer sich nur als potentielles Diskriminierungsopfer wahrnehmen kann, ist kaum in der Lage, anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Im Gegenüber sieht man dann nur noch einen Aggressor, dem man selbst Fragen nach Herkunft oder Lebensumständen als Affront auslegt. Natürlich kann die Konfrontation mit Vorurteilen belastend sein. Doch Vorurteile basieren oft auf Erfahrungswerten, und ohne sie könnte kein Mensch leben. Manchmal handelt es sich um dümmliche Pauschalisierungen, aber nur selten entspringen sie böser Absicht. Die Kunst besteht darin, „mit Vorurteilen zu leben“, wie der jüdische und schwule Soziologe Alphons Silbermann betonte. Eine Kunst, die vor allem Gelassenheit und Humor erfordert.

Die größte Gefahr der linksidentitären Ideologie ist, dass sie die Werte der Aufklärung, insbesondere die universelle Gültigkeit der Menschen- und Bürgerrechte, in Frage stellt. Stattdessen frönt man einem exzessiven Kulturrelativismus. Einige Akteure rechtfertigen sogar die Genitalverstümmlung von Frauen – und konsequent zu Ende gedacht, müsste man dann auch rechtfertigen, dass die Terroristen des Islamischen Staates Homosexuelle von Hochhausdächern warfen. Das kulturrelativistische und „intersektionale“ Antidiskriminierungsbündnis führt dazu, dass solche Widersprüche aus falscher Rücksichtnahme auf vermeintliche Bündnispartner unter den Teppich gekehrt werden.

FAZ plus 16.03.2021 Alexander Zinn forscht am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung der TU Dresden. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-lgbti-verbaende-ins-linksidentitaere-fahrwasser-abdriften-17246497.html?premium

Kurz zurück zu Aristoteles und Kant. Beide haben für die westliche, abendländische Tradition etwas erkannt und herausgearbeitet, was ein unschätzbarer Wert für die Menschheit geworden ist (übrigens lassen sich in den Kulturräumen des Ostens vergleichbare Entwicklungen finden, siehe Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens, 1998): Die Universalität der Vernunft. Bei allem, was Menschen von einander trennen kann, gehört die Vernunft zu demjenigen Vermögen und zu der Fähigkeit, andere ebenfalls als Vernunftwesen anzusprechen und sie daraufhin als Seinesgleichen zu betrachten im Denken, Fühlen, Meinen und Streben nach Leben, Gesundheit, Glück. Die Entdeckung der Universalität der Menschenrechte und ihre Kodifizierung als „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, beschlossen durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948, hat ein allgemeines Kulturgut geschaffen, das weit über Nationen und auch über eine lokale Gruppenvernunft hinausgeht. Es war nicht zufällig wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, also zu einer Zeit, als über mehr als drei Jahrzehnte hinweg die völkischen und nationalistischen Identitäten alles bestimmt, alles zerspalten und in Kriegen vernichtet hatten. Dahin zurück darf es niemals gehen.

Die berechtigten Interessen von Gruppen in unserer Gesellschaft, die sich nicht wertgeschätzt sehen oder ausgegrenzt erleben, können nur im freien Dialog der Vernünftigen und Gutwilligen öffentlich anerkannt und zur Geltung gebracht werden. Die Universalität der Vernunft, der Erkenntnis und des Wissens, – kurz die Humanität ist dabei der Grund und die Quelle für Verständnis, Verständigung und Gerechtigkeit der Menschen untereinander – und bewahrt uns vor neuer Barbarei.

[Hier ist der Text als PDF verfügbar.]

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