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Gottessehnsucht

Träume in der Wirklichkeit

Ich bin es gewohnt, die Welt naturwissenschaftlich zu betrachten. Im Alltag hat mich vieles die Erfahrung gelehrt. Beim philosophischen Nachdenken über den Alltag hinaus öffnen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften Wege, zwischen Realität und Schein, zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden und die Welt außerhalb meiner selbst besser und angemessener zu begreifen. So verschmelzen alltägliche Erfahrung und naturwissenschaftliche Erkenntnis zu einem umfassenderen Weltbild, das ich mir angeeignet habe und das meinen Wirklichkeitssinn prägt.

Natürlich liegen die Dinge beim Erkennen der Wirklichkeit sehr viel komplizierter, als es in wenigen Sätzen ausgesagt werden kann. Jedes Nomen in diesem letzten Satz ist ein problematischer Begriff, der allererst genauer bestimmt werden müsste, um den Sinn des Satzes zu erhellen. Was sind überhaupt ‚Dinge‘ außer mir, und was bedeutet ‚Erkennen‘? Über welche ‚Wirklichkeit‘ kann ich Aussagen machen, die zutreffen und darum einen sinnvollen ‚Satz‘ ergeben? Diesen Fragen widmet sich die Erkenntnistheorie, und es ist gut und wichtig, sich damit auseinanderzusetzen und die verschiedenen Positionen der Philosophien in Vergangenheit und Gegenwart kennenzulernen und gegeneinander abzuwägen. Dort, wo es gute und plausible Gründe gibt, können eigene Überzeugungen wachsen.

Von ‚Wahrheit‘ ist bisher nicht die Rede, auch nicht davon, die einzig richtige Erklärung eines Sachverhalts zu finden. Zweieinhalbtausend Jahre Geschichte des geordneten Denkens und Erkennens, also der Philosophiegeschichte, haben nicht zu einer einzigen, sondern zu vielen unterschiedlichen Positionen und Erklärungsweisen geführt. Man sollte dies weniger als einen Missstand denn als einen Reichtum ansehen. Die eine einzige Methode, die eine einzige Wahrheit, die eine einzige Antwort oder Lösung auf die vielen Fragen des Menschen gibt es offenbar nicht. Ich muss sagen, ich finde das sehr gut so.

Nun bleibt allerdings keineswegs nur ein resignierter Relativismus oder Skeptizismus übrig. Es gibt durchaus Erkenntnisse und Aussagen, die plausibler sind als andere. Es gibt besonders im Bereich der Naturwissenschaften einschließlich der Biologie einen Bereich des Wissens, der durch sehr genaue Regeln des Vorgehens und der Theoriekonstruktion geprägt ist. Solche Erkenntnisse gewinnen ihre Plausibilität dadurch, dass sie an der Wirklichkeit überprüft werden können. Sie sind überzeugend, wenn zwei methodische Bedingungen erfüllt sind: a) Die Erkenntnisse (Aussagen, Sätze, Gleichungen) sind ‚allgemein gültig‘, das heißt an allen Orten und zu allen Zeiten von jedermann nachvollziehbar. b) Diese Erkenntnisse lassen begründete Voraussagen zu, die durch Erfahrung (Beobachtung, Messung, Experiment) überprüft werden können. Beides zusammen ergibt eine hohe Verlässlichkeit und Plausibilität. Es ergibt aber keine Wahrheit.

Denn welche Wirklichkeit wird dabei erkannt? Wie verhalten sich Beobachter und Beobachtetes zueinander? Was ist Entdeckung, was Zuschreibung und Interpretation? Inwiefern sind Theorien Modelle, die zwar Wirklichkeit erhellen, aber auch verstellen können? Die Geschichte der Wissenschaft ist voller Wege und Irrwege, die einen davor warnen, allzu vollmundig eine bestimmte Erkenntnis als nun allein- und letzt- gültig zu behaupten. „Bis zum Erweis des Gegenteils“, muss stets hinzugefügt werden. Poppers Methode der Falsifikation beschreibt Wissenschaft überhaupt nur als Eingrenzung bzw. Verringerung des Irrtums. Aber auch positivere Haltungen sind möglich, die davon ausgehen, dass Realität zwar nie vollständig, aber doch zunehmend plausibel und begründet, und sei es auch in komplementären Modellen, beschreibbar ist. Naturgesetze und fundamentale Konstanten gelten dabei als unverrückbare Leuchttürme, die der wissenschaftlichen Erforschung einen festen Rahmen geben.

Aber ich muss da aus meiner Sicht gleich einschränken. Alles, was an Erkenntis möglich ist, sind Aussagen / Modelle / Systeme, die jeweils unterschiedliche Beschreibungen eines Sachverhalts darstellen. Manche davon mögen andere auschließen, andere nur ergänzen. Wenn wir Sachverhalte sinnvoll in Sprache fassen – und das müssen wir, wenn überhaupt von Erkenntnis die Rede sein soll, unabhängig davon, wie abstrakt / symbolisch [mathematisch, logisch] oder nahe am alltäglichen Sprachgebrauch die Aussagen formuliert werden – , befinden wir uns stets auf der Ebene der Beschreibung. Man kann dann weiter darüber nachdenken, welche Qualität das Bezeichnende und das Bezeichnete hat, welchen Sinn und Bedeutung einer Sache zukommt, wenn ihr denn überhaupt eine solche zukommt. Das reale ‚Ding‘ hinter der Beschreibung bleibt dem Zugriff des Begreifens letztlich entzogen: Kants „Ding an sich“ ist unerkennbar. Einen Realismus des Erkennens und Beschreibens kann man behaupten, – aber man kann ihn nur behaupten. Insofern sind auch die Naturgesetze, Konstanten und die mathematischen Gleichungen, die sie formulieren, Beschreibungen der Wirklichkeit, wie wir sie methodisch exakt bestenfalls erreichen können. Sie haben höchsten Wert und größte Plausibilität. Aber es sind keine letzten Wahrheiten, keine Enthüllungen der Realität hinter den Beschreibungen.

Gerade so kann ich mich aber an den faszinierenden Ergebnissen und Möglichkeiten der Quantenmechanik, der Genetik und Entwicklungsbiologie, der Kosmologie, des Aufspannens neuer mathematischer Räume und ‚Schäume‘ begeistern. Ich bin fröhlich und zufrieden damit, dass in der Natur, wie wir sie erkennen, alles seine Ursachen und Wirkungen, seine Zusammenhänge und Sprünge hat. Natur außerhalb des Menschen kennt keine Intentionalität, keine Teleologie, kein „intelligent design“, sondern nur Kausalität und Chaos, Determinismus und Fließgleichgewichte, Thermodynamik und einen geheimnisvollen Zeitpfeil, dessen Inhalt die Entropie ist. Oder auch umgekehrt, da streitet die Wissenschaft. Kann ich erkennen, was vor dem Urknall ist, wenn doch mit dem Urknall auch allererst der Lichtkegel unseres Ereignishorizontes entsteht? Fragen darf ich aber schon danach. Kann ich wissen, was jenseits unserer vierdimensionalen Raumzeit existiert – und gibt es da etwas, auf das die Begriffe ‚Existenz‘ und ‚Wissen‘ zutreffen? Ist es plausibel, die Entstehung von Leben als einem allgemeinen Entwicklungsgesetz folgend prinzipiell überall im Kosmos als möglich zu erwarten, oder ist es eine singuläre Erscheinung des Planeten Erde, was anzunehmen der Wissenschaft nicht leicht fiele? Kurzum – auch wenn unser gesichertes Wissen immer begrenzt, möglicherweise widersprüchlich und lückenhaft bleibt, es ist so voller Reichtum und Schönheit, dass man über den forschenden und erkennenden Geist des Menschen nur staunen kann!

St. Petri Soest

Erkenntnis, Wissenschaft ist insofern wie eine unendliche Sinfonie. Sie zeigt Klangfülle, Harmonien, Dissonanzen, aber kein Ende, kein Ziel. Sie lässt Grenzen entdecken – und überschreiten. Aber sie sieht, erkennt, weiß, sagt nie das Ganze. Der erkennende Mensch ist immer ein Teil des zu Erkennenden; es gibt keinen Punkt im Nirgendwo, von wo aus alles ‚einen Sinn‘ ergibt. Vielleicht ist es dies, das mich zu einer anderen, zu einer weiteren Erfahrung führt. Ich kann sie nicht als Konkurrenz, nicht einmal als Ergänzung oder Überhöhung ansehen. Diese Erfahrung ist anders und umfasst und betrifft mich ebenso gänzlich wie mein Streben nach begründeter Erkenntnis. Man kann diese ‚andere‘ Erfahrung gewiss in unterschiedlichen Zusammenhängen machen. Es handelt sich um eine Erfahrung von Ganzheitlichkeit und Vollkommenheit, wie sie mir in der Kunst, in der Musik, in der Religion begegnet.

Ich sitze in einem Kirchenraum. In meiner Vorstellung und auch tatsächlich ist es eine sehr alte Kirche mit den verschiedensten Stilelementen, angefangen bei der Romanik über die Gotik hin zu einer neuzeitlichen (Nachkriegs-) Rekonstruktion, die einen zufriedenstellenden architektonischen Gesamteindruck vermittelt. Ich bin christlich – evangelisch sozialisiert und durchaus religiös ‚musikalisch‘. Ich mag wieder einen schönen Gottesdienst. Ich spreche das Glaubensbekenntnis und stoße mich überhaupt nicht am „Schöpfer des Himmels und der Erde“, auch an der „Jungfrau Maria“ nicht. Lieder und Gebete, Lesungen und Klänge erfüllen den Raum, durch dessen bunte Glasfenster die Morgensonne Bilder leuchten lässt. Ich fühle mich gut aufgehoben und wohl, vielleicht weil ich überhaupt nicht nachdenken muss und will. „Erhebet eure Herzen“ – nein, wir erheben sie nicht, wir werden erhoben zum ‚Herrn‘. Ich habe lange gebraucht, einen Gottesdienst wieder so fröhlich und unbeschwert feiern zu können mit all den Menschen (erstaunlich viel Mittelalter) neben mir und mit mir beim Mahl am Altar. Ich genieße die wundervolle Orgel. Erstaunlicherweise finde ich auch Predigten oft bewegend und gut. Was ist es, das diesen angenehmen Wärmestrom hervorbringt?

Man kann es sehr schnell psychologisch und vielleicht sogar gerontologisch erklären. Kindheitserinnerungen, Gefühl der Geborgenheit, Altwerden. Dieses und noch mehr Erklärliches mag zutreffen, aber es trifft mich nicht wirklich. Es ist tatsächlich eine andere Art Erfahrung des Wirklichen und des Lebens. Ich möchte diese Erfahrung „Gottessehnsucht“ nennen. An klassischen Theologen hat sie vielleicht am deutlichsten Friedrich Schleiermacher formuliert. In diesen religiösen oder musikalischen Erfahrungen werden andere ‚Welten‘ spürbar, Gefühle und innere Bewegungen, die durchaus ‚real‘ sind. Es spielt dafür zunächst überhaupt keine Rolle, ob diesem Gefühl eine äußere Realität entspricht, ob also das geheimnisvolle Ganze, das ich als ‚Gott‘ erfahre, ein Produkt meiner Phantasie oder ein Ergebnis meiner Träumereien ist. Es ist jedenfalls eine Art Sehnsucht nach Ganzheit, Heilsein, Geborgenheit, Versöhntsein mit all dem Übrigen in der Welt. Das Widerwärtige und Widerspenstige bleibt hier draußen, außen vor, und nur so ‚erhoben‘ und getröstet fühle ich mich bereit, all den anderen Erfahrungen von Rationalität und Realität wieder zu begegnen. Vielleicht gibt diese Sehnsucht, die einen Moment lang als gestillt erfahrbar wird, auch die Kraft, die vielen Widerwärtigkeiten und Grausamkeiten, die Hast, Gier, Niederträchtigkeit in der alltäglichen Welt auszuhalten.

Gottessehnsucht ist wie ein Korrektiv. Sie weist auf Fülle und Ganzheit, die sonst nirgendwo zu finden ist. Sie ist eine andere ‚Sinfonie‘ als die ‚Sinfonie‘ der Wissenschaft. Beide stehen in keiner Konkurrenz, weil sie auf ganz verschiedenen Ebenen des Menschseins zu Hause sind. Aber vielleicht stimmt das auch gar nicht, vielleicht lege ich mir das nur passend zurecht. Was wäre daran verkehrt? Die Wirklichkeiten der Welt, die Erkenntnisse und Erfahrungen in Wissenschaft, Philosophie, Religion, Kunst sind alles nur unterschiedliche Weisen des Menschen, ‚das Universum‘ anzuschauen. –
Und vielleicht ist die ‚Gottessehnsucht‘ doch so etwas wie der Cantus firmus. Es ist nur eine Vermutung – aber was können wir schon mehr?

Reinhart Gruhn, zu Pfingsten