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Geist Gesellschaft Philosophie

Moderne und Aufklärung

Neue Diskussion über Mythologie und Rationalität

I

Kürzlich (16.01.2019) erschien im Blog „Geschichte der Gegenwart“ ein Beitrag von Philipp Sarasin „Die Kinder der #Moderne“. Er wurde verschiedentlich aufgegriffen und spiegelt eine neue Diskussion. Zu Beginn seines Artikels heißt es:

Was war die Moderne – eine Epoche? Oder ist die Moderne so etwas wie eine „Haltung“, ein „unvollendetes Projekt“, das wir von der Aufklärung geerbt haben? Und sind daher nur die, die sich auf die Aufklärung beziehen, die rechtmässigen „Kinder der Moderne“?

Es gibt Begriffe, die so schil­lernd sind, dass sie ohne Einord­nung miss- oder unver­ständ­lich bleiben – und zwar so sehr, dass sie einen bei unbe­dachtem Gebrauch oft selbst verwirren. In diesem Sinne miss­ver­ständ­lich war die Formu­lie­rung „Zänke­reien unter den Kindern der Moderne“, die ich am Ende meines Arti­kels über „die Neue Rechte von Arnold Gehlen bis Botho Strauß“ verwendet habe. Beab­sich­tigt war, den poli­ti­schen Streit unter all jenen, die sich in der Tradi­tion des aufklä­re­ri­schen Denkens sehen, von den Posi­tionen der Neuen Rechten abzu­grenzen, die für die Aufklä­rung nur noch ein höhni­sches Lachen übrig hat.

Soweit die gute Absicht. Allein, die Aussage war falsch, denn auch die Neue Rechte gehört fraglos zu den „Kindern der Moderne“.

Damit ist die Antwort auf die Lead-Frage schon gegeben. Im Folgenden verfolgt Sarasin Herkunft und Gebrauch des Begriffes „Moderne“ bzw. „modern“ in der Soziologie (Max Weber), in England und Frankreich seit der französischen Revolution („…ein neues Zeit- oder viel­mehr Gegen­warts­ge­fühl zu formu­lieren; bis in die Mitte des 19. Jahr­hun­derts wurde dieser Ausdruck zum geläu­figen Code­wort für die schnelle Verän­de­rung aller Lebens­ver­hält­nisse.“), im Kommunistischen Manifest (Marx / Engels) und bei Charles Beaudelaire (Moderne als Haltung, ohne tradi­tio­nelles Muster der Lebens­füh­rung, ganz der Gegen­wart, dem Wechsel der Moden zugewandt, 1862) und schließlich bei Michel Foucault, für den gilt: „…diese (moderne) „Praxis der Frei­heit“ achtet zwar, prag­ma­tisch, das Wirk­liche als Realität, tut ihm aber inso­fern auch „Gewalt“ an, als das Subjekt sich selbst und die Welt verän­dern bzw. umge­stalten kann und will. Die Moder­nität, so Foucault, nötige den Menschen „zu der Aufgabe, sich selbst auszu­ar­beiten“ (1984). Auf Immanuel Kant (Aufklärung = „Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“) folgt Jürgen Habermas, für den die vernünftige Gestaltung der Welt Programm und „unvollendetes Projekt“ der Aufklärung ist.

Dieser Geschichte des Begriffs stellt Sarasin die gesellschaftliche Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert gegenüber. Sie konterkariert die emanzipatorische Emphase, mit der die Aufklärung zum „Aufbruch aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ aufruft.

Die Zirku­la­tion von Kapital, Gütern, Menschen, Spra­chen und Zeichen hat Gesell­schaften, Produk­ti­ons­weisen und „Kulturen“ aus ihren tradi­tio­nellen Veran­ke­rungen gelöst und Gewiss­heiten aufge­weicht. Zudem hat die Moderne, wie die Sozio­logen sagen, die „Fremd­re­fe­renzen“ Reli­gion und Natur gekappt: Gesell­schaft­liche Verhält­nisse können nicht länger reli­giös fundiert oder als „natür­liche“ begründet werden.

Die Vernunft selbst wird relativiert und als letzte ‚absolute‘ Bastion der Subjektivität geschleift. Niklas Luhmann bringt das für Sarasin auf den Punkt als „radi­kalen Endpunkt der Moderne“.

Moderne Gesell­schaften sind, so gesehen, ganz auf sich selbst gestellt, und sogar ihre Bindung an die „Vernunft“ musste in den Strudel dieser stän­digen Auflö­sungs­be­we­gung geraten. Niklas Luhmann formu­lierte die unlös­bare Wider­sprüch­lich­keit, in die die Moderne auf diese Weise gerät, eini­ger­maßen scharf (aber nicht nost­al­gisch oder gar reak­tionär): Die Moderne „kennt keine Posi­tionen, von denen aus die Gesell­schaft in der Gesell­schaft für andere verbind­lich beschrieben werden könnte“ – es gibt, mit anderen Worten, keinen Stand­punkt „außer­halb“, keine der Geschichte entho­bene „Vernunft“, von dem aus und mit der sich alle Aussagen gültig beur­teilen ließen. Luhmann folgert daraus: „Es geht daher nicht um Eman­zi­pa­tion zur Vernunft, sondern um Eman­zi­pa­tion von der Vernunft, und diese Eman­zi­pa­tion ist nicht anzu­streben, sondern bereits passiert. Wer immer sich für vernünftig hält und dies sagt, wird beob­achtet und dekon­stru­iert.“

Im Folgenden erörtert Sarasin die stabilisierenden Faktoren westlich-moderner Gesellschaften, durch Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit dem Anspruch und den Gefahren der Moderne gleichzeitig – ungleichzeitig zu begegnen. Denn auch die Totalitarismen der „Rasse“ bzw. der „Klasse“ stehen mit ihrem Programm der „Schaffung des neuen Menschen“ in der Tradition der Moderne. Heute werde die „Natur“ und der „Körper“ zu „(Über-) Lebensmythen“, wenn ansonsten „alle meta­phy­si­schen Sinn­be­züge entfallen“. Sarasin endet mit einem Appell, denn wir leben ->

… in der Post­mo­derne – in einem diffusen Zustand nach der Moderne. Wir sind zwar alle­samt Kinder und Enkel der Moderne, aber ohne den Glauben, dass die Welt sich wie auf einem weißen Blatt Papier neu gestalten lasse. Und obwohl uns gerade eine tech­ni­sche Revo­lu­tion fort­reißt, die wir verstehen müssten, erleben gleich­zeitig die Mythen des Volkes, der Natur und des Marktes ein revival, das einen zwingt, den Glauben an die Aufklä­rung nicht aufzu­geben.

Gezwungen zum Glauben an die Aufklärung? – eine merkwürdige Formulierung. An die Aufklärung kann man schlecht glauben, wohl aber an die unter allen Widerwärtigkeiten verborgene Kraft und „List“ der Vernunft. Sie, die Vernunft, die erhellende, emanzipative Funktion des subjektiven Geistes, steht im Zentrum der aufklärerischen Tradition der Moderne. Es bleibt dann doch wieder und ’nur‘ mit Habermas die Zuflucht zur „substanziellen“ Vernunft, die das Projekt der Aufklärung des Menschen als freie Subjekte ihres Handelns und der Freiheit der Subjektivität ihres Denkens fortschreibt. Angesichts der neuen totalitären rassistischen oder nationalistischen „Obsessionen“ ist das keine leichte, aber auch keine falsche Aufgabe.

II

Bei einer zufälligen Lektüre kommt mir ein ganz anderer Text in den Sinn von Eva Hoffmann, Lost in Translation, 1992. Sie beschreibt darin ihre Emigration 1959 als polnische Jüdin und ihr „Ankommen“ als Migrantin in den späten sechziger Jahren in „Amerika“.

Manchmal fühle ich mich getäuscht von dieser Verquickung rigide vertretener Meinungen und proteusartiger Veränderlichkeit, die meine Kommilitonen für mich unfaßbar macht. In den Nebelschwaden von Proklamationen und Argumenten ist es schwer für mich, Moden von ehrlichen Meinungen zu unterscheiden, leidenschaftliche Überzeugungen von defensiven Dogmen. Was denken sie, was fühlen sie, was ist ihnen lieb… [S. 252]

Wie und woran soll man sich in einer zersplitterten Gesellschaft assimilieren? Anpassung an die Zersplitterung? … Ich teile mit den Amerikanern meiner Generation ein akutes Gefühl der Zerrissenheit und die ebenso akute Herausforderung, einen Platz und eine Identität im Leben für mich erfinden zu müssen, ohne daß ich mich auf Traditionen stützen könnte. Man könnte behaupten, die Generation, der ich angehöre, ließe sich dadurch charakterisieren, daß sie sich unverhältnismäßig lange geweigert hat, sich anzupassen – und eben in meiner Entwurzelung bin ich eine Angehörige dieser Generation. Tatsächlich könnte man sagen: Das Exil ist die archetypische Lebensbedingung in unserer Zeit. [S. 253]

Besonders der letzte Satz lässt aufhorchen. Die heute für Millionen Menschen so reale Situation der Migration ist vielleicht die heutige Form eines ‚Lebens im Exil‘, dessen Zerrissenheit und Heimatlosigkeit („Lost in Translation“) Eva Hoffmann beschreibt. Und die scharfe Zerrissenheit der US-amerikanischen Gesellschaft vor 50 Jahren scheint der von heute mehr zu gleichen, als es vielen Heutigen bewusst ist. Das „Exil“, die Migration, die Zerrissenheit zwischen Kulturen, Religionen und Sprachen, die „Nebelschwaden von Proklamationen und Argumenten“, mit heutigen Worten die Wutausbrüche, Hasstiraden, Unflätigkeiten besonders in den Sozialen Medien – all das zusammen verdichtet in den Begriffen von Fremdheit, von Exil, könnte tatsächlich zu den „archetypischen Lebensbedingungen“ unserer Zeit“ gehören. Der aufklärerische Imperativ und die optimistische Hoffnung, dass die Vernunft es schon richten wird, geht ins Leere. Das Vertrauen in die Diskursfähigkeit, also in die grundsätzliche Kompromissbereitschaft und Konsensfähigkeit in unseren Gesellschaften scheint zu schwinden. Nicht erst die „filter bubbles“ der Netzwelten isolieren, sondern reale Sprachlosigkeit zwischen ideologisch eingeigelten Teilen einer Gesellschaft bzw. einer Nation (Brexit) herrscht da, wo die eigene Meinung absolut gesetzt wird und nur die eigene ‚Wahrheit‘ / Weltsicht gilt. Das ist der Kern des Populismus.

Der Populismus arbeitet mit der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen dem Volk und den Eliten. Wie es der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller plausibel herausgearbeitet hat, ist der Kern der diversen Populismen ein Alleinvertretungsanspruch. Man artikuliere die wahren Interessen und authentischen Werte des eigenen Volkes, der „kleinen Leute“, der eigentlichen Deutschen, Franzosen, Amerikaner etc. Die Populisten halten sich damit für die eigentlichen Demokraten, für diejenigen, die dem Volk unmittelbar eine Stimme geben. Mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gesprochen, ist das die Form einer illiberalen Demokratie: illiberal im Sinne von antipluralistisch. Aus der Sicht der Populisten braucht man den liberalen Pluralismus, die Artikulation unterschiedlicher Interessen und unterschiedlicher Werte, die Verschiedenheit der Parteien und Verbände, schließlich auch die Pluralität der Medien gar nicht, ja, ist ihnen feindlich gesinnt. Denn es gilt ja: „Wir repräsentieren das Volk.“ [Andreas Reckwitz, Alternativlosigkeit ist Gift]

ZEIT vom 20.01.2019
Flammarion
nach Camille Flammarion, 1888 (CC) Wikimedia

III

Wo also ist das „aufklärerische Projekt“ geblieben? Ist es nur die inzwischen etwas absonderliche Idee einer westlich-liberalen Elite, die sich auf kulturelle Vielfalt beruft und individuelle Selbstermächtigung einfordert über trennende „Zuschreibungen“ hinweg? Es ist ein berechtigter Einwand, denn tatsächlich ist es nur der kleinste Teil der Menschheit, der den Schritt zur radikalen Subjektivität ohne jede „Fremdreferenz“ gegangen ist: Der weitaus größte Teil der Weltbevölkerung lebt in religiösen Traditionssystemen, in traditionellen Familienverbänden, in Beziehung zu allerlei „Fremdreferenzen“, auf die einzurichten und sich damit abzufinden die Lebenserfahrung und Lebensklugheit gebieten, egal ob man nach Lateinamerika, Afrika, Arabien samt muslimischem Gürtel, Indien und China schaut. Russland hat gerade erst die orthodoxe Religiosität als Sinn- und Rechtfertigungssystem re-installiert, nachdem der totalitäre Kommunismus untergegangen ist. Auch in den westeuropäischen und skandinavischen Ländern hat zwar die Bedeutung des Christentums nachgelassen, aber immer noch gehören bei uns in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung einer Kirche an – ganz zu schweigen von der Ausbreitung vielfältiger religiöser und spiritueller Gruppen und Organisationen, welche die frei gewordene Stelle einer „Fremdreferenz“ rasch eingenommen haben. Die freie, selbstbestimmte, multikulturelle Persönlichkeit, die sich in vernunftbestimmter Autonomie stets „neu erfindet“, ist eine Fiktion, die nur im Feuilleton real wird. Ein etwas altertümlicher, aber nichtsdestoweniger richtiger Spruch lautet: „Wirfst du Gott zum Fenster hinaus, kommt schon der Götze zur Tür herein.“ Statt Leerstellen (gekappte Fremdreferenzen) gibt es nun Stellvertreter und Platzhalter: Ersatzfiguren.

Zugespitzt wird der neuzeitliche Zwang, sich selbst erfinden zu müssen, in konstruktivistischen Theorien, die alle Bezüge und Abhängigkeiten, erst recht alle Fremdreferenzen als menschengemachte und interessegeleitete Konstruktionen entlarven. Vor den fake news kommen die fake facts. Die kulturalistische Interpretation kann dann alles und jedes als jeweils zeit- und kulturabhängige Gegebenheit bzw Konstruktion gelten lassen oder rechtfertigen. Was aber geht verloren, wenn der triumphierende Subjektivismus, getarnt als Autonomie, als blanker Egoismus oder rücksichtsloser „Wille zur Macht“, ohne Maß auftritt und ohne Widerspruch bleibt? Die französischen Existenzialisten haben in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ebenfalls als „Kinder der Moderne“ die Sinnlosigkeit der modernen, auf sich allein gestellten Existenz deutlich gemacht (Camus). Die Moder­nität, sagt Foucault, nötige den Menschen „zu der Aufgabe, sich selbst auszu­ar­beiten“, aber funktioniert das wirklich? – Eva Hoffmann schreibt von der Aufgabe, „eine Identität im Leben für mich erfinden zu müssen, ohne daß ich mich auf Traditionen stützen könnte“. Ist das jedem einzelnen Menschen heute eingeschrieben und überhaupt möglich und zumutbar? – „Fremd­re­fe­renzen“ hatten und haben eine enorm stabilisierende und entlastende Wirkung. Es ist sehr die Frage, ob man als funktionale Existenzform zur Selbstkonstituierung und Selbstoptimierung überhaupt menschlich leben und Mensch bleiben kann. Die neuen rechten Bewegungen, die den zwangsweise ‚globalisierten‘, also verunsicherten, entwurzelten und orientierungslosen Menschen so erfolgreich ansprechen können, bieten als Antwort doch genau das alte Rezept der „Fremdreferenz“, die als das eigentlich sinnstiftende Kollektiv die Lücke des Individualismus füllt und Geborgenheit verheißt: Volk, Nation, ‚Rasse‘, Hautfarbe, Fan(atismus). Die multikulturell ausgerichteten global agierenden Liberalen sind ihnen das Feindbild, für das sich wieder einmal der Antisemitismus als Urform negativer, gewaltbereiter Projektionen eignet.

Neuen Schwung für das „Projekt“ oder besser Programm einer aufgeklärten Moderne könnte eine Besinnung auf die alte Dialektik zwischen Freiheit und Bindung verleihen. Man könnte auch an der Kritik Hegels gegenüber dem Aufklärer Kant anknüpfen, letzterer etabliere in seinen Kritiken nur eine verkürzende Verstandes-Rationalität, welche die Vernunft-Rationaliät des Geistes noch nicht eingeholt habe: Das Denken des Absoluten ist das Denken des Absoluten, wie es die Philosophie des Geistes (Hegel) als „absolutes Denken“ durchführen wollte. Nun, wir können und wollen nicht zurück zu alten Aporien und überholten Streitfragen (-> Fichte, Schelling – Marx, Engels usw.) Aber der Hinweis darauf, dass Freiheit, Autonomie, kulturelle Eigenständigkeit und Wertschätzung der Subjektivität samt ihrer Kreativität (und zugleich Borniertheit) nicht im Widerspruch stehen müssen zu „Fremdreferenzen“ und Heteronomien, die unverstanden und unbeachtet ohnehin ihre tatsächlichen mächtigen Wirkungen entfalten. Nation und Weltoffenheit muss ja kein Gegensatz sein, Selbstverwirklichung und Gemeinschaftsbindung ebensowenig. Der Geist der Freiheit und die Freiheit des Geistes sind jenseits der Funktionsaspekte, wie sie Neurowissenschaften beschreiben, durchaus angewiesen auf einen Bezug zu einem Ganzen, Vollkommenen, Absoluten (-> Platon), gegen den abzugrenzen allerst konkrete Freiheit und sich selbst bestimmende (und damit begrenzende) Subjektivität ermöglicht.

Es gibt verschiedene Wege und Ansätze, dieses Ziel eines neo-aufklärerischen Programms zu verfolgen. Es kann die Weiterführung und Fortentwicklung des Gedankens Gottes sein, wie es insbesondere die neuzeitliche Geschichte der christlichen Religion und Theologie überliefert, es kann ebenso gut der Begriff eines „absoluten Geistes“ sein, der philosophisch als erkenntnisleitendes Prinzip und / oder als regulative Idee des Denkens seine Widerständigkeit gegenüber allzu raschen Vereinnahmungen durch eine willkürliche und sich unbeschränkt wähnende Subjektivität beweisen müsste. Der instrumentellen, technischen Vernunft, die heute in der Form algorithmischer Intelligenz (KI) Geltung beansprucht, ebenso wie einer technisch-ökonomischen Rationalität, die macht, was machbar ist, und vermehrt, was vermehrbar ist (Wachstum) wäre dann eine kreative, offene und nachhaltige Vernunft entgegenzusetzen (vielleicht auch zu ergänzen?), die um ihre Grenzen weiß, weil sie sich selber nur als Abbild und Teil eines umfassenden Ganzen des Geistes versteht, nach dem man streben, den man aber nie erreichen und in die Hände bekommen kann. Der Ideologie des modernen homo faber ebenso wie dem postmodernen Konstrukt eines homo globalis oder homo nationalis , also eines seine Identität völkisch und ‚rassisch‘ definierenden Nationalisten oder eines sich selbstoptimierenden digitalen Freelancers , ist nur zu begegnen durch einen Entwurf des Denkens, der die aufklärerische individuelle Freiheit und Menschenwürde verbindet mit einem Denken des Ganzen, das auch die eigenen Grenzen und Abhängigkeiten einbezieht. Dass Menschen „Fremdreferenz“ nötig haben, also den Bezug brauchen zu einer Heteronomie und Totalität außerhalb und unabhängig von eigenem Leben, aktueller Geschichte, digitaler Technisierung und sozialer Bindung an die jeweilige Zeit und Gesellschaft, – das ist nicht zuletzt eine Erkenntnis und ein Erfordernis aus den totalen Brüchen und Katastrophen der (insbesondere westlichen) Moderne.

Etwas erratisch bleibt es bei der Diagnose einer „Dialektik der Aufklärung“. Es ist verwunderlich, dass Philipp Sarasin in seinem eingangs zitierten Beitrag weder diesen Begriff gebraucht noch die gleichnamige Schrift von Theodor Adorno und Max Horkheimer (1944) erwähnt. Im Grunde behandelt sie sein Thema und hat nicht viel von ihrer Aktualität verloren. Besonders der erste Teil über den Zusammenhang von Mythos und Aufklärung gewinnt angesichts der Hanges zu neuen Mythologien (oder der Wiedergeburt alter Mythen) neue Brisanz. Eine Streitschrift aus den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, unmittelbar während der nationalsozialistischen und stalinistischen Katastrophen geschrieben, ist nicht eins-zu-eins auf das Heute münzen. Man kann sich anregen lassen und ihren wirklichkeitserhellenden Gedankengängen und Kritiken nachspüren. Adorno und Horkheimer jedenfalls wussten etwas von der zerstörerischen Gewalt einer Moderne, die Aufklärung zum Mythos macht und den enthemmten Subjekten totalitärer Herrschaft nationalistischer, rassistischer und technizistischer Ideologien („instrumentelle Vernunft“) freien Lauf lässt. Angesichts der heutigen Populismen wird solches Denken ganz schnell wieder hochaktuell.

Reinhart Gruhn