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Anthropologie Naturwissenschaft

Nicht richtig falsch

Über Beobachtungen im Alltag.

Es gibt eine Reihe von Aussagen, die in der heutigen Welt als falsch gelten, obwohl sie immer noch gebraucht werden. Die Erde sieht aus wie eine Scheibe, obwohl sie in Wahrheit rund ist wie eine Kugel. Die Sonne geht auf, obwohl sich die Erde ihr in Wahrheit entgegen dreht, ebenso bei der Rede vom Sonnenuntergang. Sie gehe natürlich in Wahrheit gar nicht unter, sondern die Erde drehe sich von ihr weg. Oder wenn ich den Eindruck habe, ich könne mich ganz frei entscheiden, dann ist das in Wahrheit eine Täuschung, denn unbewusst hat mein Gehirn schon vorher entschieden bzw. ein entsprechendes Spannungspotential in den Nervenleitungen aufgebaut, und seien es auch nur Millisekunden vorher: Der freie Wille ist demnach in Wahrheit eine Illusion. Wenn ich in einem Zug im Bahnhof stehe, und plötzlich setzt sich mein Zug in Bewegung, wie ich an dem auf dem Nebengleis wartenden Zug erkenne – und auf einmal erscheint dessen letzter Wagen und ich merke, dass mein Zug immer noch wartet und der Zug daneben abgefahren ist – dann sei dies eine optische Täuschung.

In allen Beispielen geht es aber eigentlich gar nicht um richtig oder falsch, auch keineswegs um altertümlich oder modern und darum auch mitnichten um unkorrekte Redeweise, sondern es geht um die Relativität meiner Person als Beobachter. Das Beispiel mit dem anfahrenden Zug ist unverfänglich, nur seine Einordnung als optische Täuschung ist schief. Eine optische Täuschung ist es, wenn man einen ins Wasser getauchten Stab mit einem Knick sieht, obwohl er ganz gerade eingetaucht wurde: Das andere Brechungsverhalten im Wasser lässt den Knick erscheinen. Ob aber mein Zug sich bewegt oder der Zug auf dem Nebengleis, das ist nur eine Frage, wer sich relativ zu wem bewegt. Solange man im Fenster nur den anderen Zug sieht, ist es gar nicht festzustellen, welcher von beiden Zügen sich bewegt, sie befinden sich dann im Ausschnitt des Fensters nur relativ zueinander in Bewegung. Erst wenn etwas drittes, zum Beispiel das Bahnhofsdach, ins Blickfeld kommt, kann die jeweilige Bewegung oder der Stillstand relativ zum Bahnhof selber bestimmt werden. Von einer Täuschung kann hier keine Rede sein.

ICE
ICE im Bahnhof (c) DLR (CC-BY 3.0)

Schauen wir uns die Beispiele vom Sonnenauf- und Sonnenuntergang an. Es ist doch astronomisch einfach wahr, dass sich die Erde um sich selber dreht und mit diesem Eigendrehimpuls zusätzlich um die Sonne herum bewegt. Das trifft genau für denjenigen zu, der als Beobachter gleichsam außerhalb des Planeten Erde oder gar außerhalb des Sonnensystems steht. Für den Beobachter auf dem Erdboden, der Bewegungen nur relativ zu seinem Standpunkt wahrnehmen kann, bewegt sich richtigerweise die Sonne über den Horizont aufwärts oder unter den Horizont abwärts. Von der Erde aus gesehen geht die Sonne tatsächlich auf, und sie geht tatsächlich unter, und da ist überhaupt nichts falsch dran. Schließlich ist sogar der Eindruck, die Erde sei, soweit ich sie durch Rundumschau sehen kann, eine Scheibe, deren Krümmung man nur unter besonderen Umständen tatsächlich beobachten kann (der Dampfer, der am Horizont von unten auftaucht), durchaus korrekt. Es ist der zutreffend beschriebene Wahrnehmungseindruck eines Beobachters auf dem Erdboden. Auch da ist nichts Falsches dran. Erst eine Position in großer Höhe (Flugzeug, Satellit) kann die Rundung der Kugel sichtbar werden lassen. Die Erdkugel ist für den Beobachter am Boden schlicht zu groß, als dass er die Krümmung auf dem Boden selber wahrnehmen könnte. Das Gesichtsfeld ist genau wie eine Scheibe.

Es zeigt sich, dass unsere Alltagssprache sehr genau die Wahrnehmung unseres Alltags wiedergibt,- eben genau aus der Position des Beobachters, der wir tatsächlich sind, und relativ zu unserem Standpunkt. Normalerweise ist diese Beschreibung im Alltag angemessen und völlig ausreichend. Das Wissen über die Darstellung unserer Welt aus einer anderen Beobachter-Perspektive heraus ist ein weitergehendes Wissen, das heute vielfach in die Technik und ihren alltäglichen Gebrauch eingegangen ist. Bei jedem längeren Flug wird die Wölbung der Erdoberfläche sichtbar und die Drehung relativ zur Sonne erfahrbar. Und dass die Erde auf dem Boden aussieht wie eine Scheibe, macht sie längst nicht mehr zu einer solchen. Dennoch ist die Redeweise aus dem Blickwinkel des alltäglichen Beobachters ebenso richtig wie angemessen, solange es sich um die engere Alltagswelt handelt. Da darf dann auch der Strom aus der Steckdose kommen und die Milch aus dem Kühlschrank.

Vertrackter scheint es mit dem freien Willen zu sein – oder auch gar nicht. Denn bekanntlich ist das Thema ‘freier Wille’ philosophisch ein Minenfeld, nicht nur wegen der problematischen Libet-Experimente. Hier genügt es aber darauf hinzuweisen, dass ich mich natürlich dann frei entscheide, wenn ich mir meiner selbst und meiner Freiheit bewusst bin – wenn ich mich frei fühle. ICH entscheide ja, nicht mein Gehirn, ebenso wenig wie meine Füße laufen, sondern ich laufe als ganze Person. Also entscheide ich mich auch je nach Situation mehr oder weniger frei, das heißt im Rahmen meiner jeweiligen Möglichkeiten. Aber allein schon die Möglichkeit, mich in einer gegebenen Situation eben so oder auch anders entscheiden zu können, macht mir meine Entscheidungsfreiheit erfahrbar. Wie immer man darüber hinaus neuropsychologisch oder philosophisch argumentieren könnte, – an meinem alltäglichen Bewusstsein, mich frei entscheiden zu können, ist nichts Falsches.

Aufgrund dieser Überlegungen ist es eher merkwürdig, dass bisweilen eine scheinbar wissenschaftlich korrekte Redeweise angemahnt wird. Die Naturwissenschaft scheint so allmächtig geworden zu sein, dass ihre Ergebnisse und Sichtweisen sogar die Alltagserfahrung überformen und umprägen sollen. Wissenschaft vollzieht einen Perspektivenwechsel. Jeder untersuchte Gegenstand und Verlauf kann zu einem Objekt der Betrachtung aus der Sicht eines distanzierten Beobachters gemacht werden. Es ist geradezu der Witz objektivierter und standardisierter Verfahren (Experiment, Labor), vom Ich und seiner Perspektive abzusehen und nur die beabsichtigte Versuchsanordnung und Beobachtungsaufgabe in den Blick zu nehmen. Das ist eine notwendige Rahmenbedingung wissenschaftlicher Verfahren, auch wenn die Ausschaltung der Beobachterrolle durchaus problematisch werden kann. Zunächst aber bringt das objektivierte Verfahren objektive Ergebnisse, zum Beispiel Messungen mit Ergebnissen, die mit entsprechenden Vorhersagen aus Theoriemodellen verglichen werden können. Es zeigt sich bereits hier, dass Verfahren naturwissenschaftlicher Arbeit gänzlich unterschieden sind von dem alltäglichen Erfahren in unserer Lebenswelt. Darin stehe Ich im Mittelpunkt, der ich etwas denke, tue, fühle, will, dem etwas widerfährt. Meine eigene Perspektive innerhalb meines sozialen Umfeldes ist dafür maßgeblich. Diese Perspektive bewährt sich im alltäglichen Leben, im Umgang mit anderen Menschen und Dingen. Sie ist “richtig”, sofern sie lebenstauglich ist und für mich passt. Wenn ich Kopfweh habe, empfinde ich Schmerzen, – ob dabei C-Fasern der Nerven feuern, ist eine völlig andere Betrachtungsweise. Sie wird in der akuten Situation kaum helfen, selbst wenn sie aus wissenschaftlicher Perspektive zutreffend ist.

Der Alltag und die Erfahrungswelt der darin lebensweltlich verflochtenen Personen haben in ihren Denkräumen und Handlungsperspektiven ein ganz eigenes Recht mit “richtig” und “falsch” und bedürfen keiner wissenschaftlichen Rechtfertigung. Diese trägt allerdings zur Erweiterung von Erkenntnis und Wissen bei – und kann so zu neuen Handlungsmöglichkeiten (Technologien) führen, die in der Alltagswelt Bedeutung gewinnen. Ein Perspektivenwechsel bleibt auch dann bestehen, so dass hier richtig ist, was dort falsch sein kann. *)

 


*) Diese Überlegungen berühren sich mit einem phänomenologischen Ansatz, wie er heute nachdrücklich von Thomas Fuchs (Karl-Jaspers-Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie, Heidelberg) vertreten wird. Siehe dazu Andreas Hergovich, Zum Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaft. DOI 10.1515/dzph-2016-0002  / DZPhil 2016; 64(1): 20–44 vor allem 2. Die Uneinholbarkeit der Perspektive der ersten Person und 3. Wissenschaftliche Tätigkeit bleibt immer an die Lebenswelt rückgebunden.