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Welches Wissen?

Wie erlangt man Wissen – und was ist Wissen?

Was ich weiß, ist mir bewusst. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken, es wahrnehmen und mir bewusst machen. Ich kann mich auch einer Sache oder Begebenheit erinnern, sie mir ins Gedächtnis rufen und dann aktuell über sie Bescheid wissen. Andererseits kann ich über etwas, das mir widerfahren ist, ein unklares, vielleicht ungutes Gefühl haben. Werde ich dadurch zu einem Verhalten genötigt, ohne es einfach auf sich beruhen zu lassen, muss ich mir klar werden darüber, was ich tun soll. An einem bestimmten Zeitpunkt weiß ich dann, was ich zu tun habe. Oder ich tue etwas, verhalte mich auf einen von außen kommenden Anspruch, reagiere auf ein Wort oder Verhalten, ganz spontan, ohne genau zu wissen, was ich tue und was da eigentlich geschieht. Ebenso kann es passieren, dass ich sehr genau weiß, was ich eigentlich nicht tun oder sagen will, und tue und sage es dann dennoch. Immer hat das, was ich aktuell weiß, mit dem zu tun, was ich einmal erfahren, erlernt, gewusst, getan habe, dessen ich mich erinnere und das nun als aktuelles Wissen nutze, sei es durch Zustimmung, sei es durch Ablehnung. Es folgt daraus ein Verhalten meinerseits, dessen ich mir zumindest in Teilen bewusst bin.

Die Anfangsfrage habe ich damit noch nicht beantwortet, weder was Wissen ist, noch wie ich Wissen erlange. Es scheint einfach da zu sein als etwas, das ich fortwährend brauche, nutze, anwende. Angeeignetes Wissen muss mir aktuell nicht einmal bewusst sein, ich kann morgens die Kaffeemaschine anstellen und gleichzeitig an meinen Tagesplan denken. Die Kaffeemaschine bediene ich unbewusst, weil ich einfach weiß, wie es geht. Wissen wird bewusst, wenn ich es aktuell in einer neuen Situation anwenden muss, wenn es in andere Umstände und Zusammenhänge hinein implementiert werden soll. Bin ich woanders zu Besuch, muss ich vielleicht erst einmal suchen, wo die Kaffeemaschine steht, und herausfinden, wie dieses andere Modell zu bedienen ist. Mein eigenes Wissen fällt mir immer dann auf, wenn es gerade fehlt, wenn ich eine fremde Vokabel nicht verstehe oder irgendwo den Einschalter nicht finde, den ich zur Bedienung brauche. Ich erinnere mich aber dabei an andere Situationen, ähnliche Maschinen, den Satzzusammenhang, in dem die unbekannte Vokabel auftaucht, und kann mein bisheriges Wissen aktualisieren, modifizieren, übertragen, um es in einer veränderten Situation erfolgreich anwenden zu können. Vielleicht kann ich die Bedeutung der neuen Vokabel aus dem Zusammenhang erschließen, ohne – letzte Möglichkeit – im Wörterbuch nachzuschlagen. Aktuelles Wissen stützt sich immer schon auf altes, bereits erworbenes Wissen, das in neuen Zusammenhängen modifiziert, angepasst und erweitert wird. Wissen ist also immer vernetztes Wissen: in Personen, Erfahrungen, Situationen und Gemütszuständen eingebettet. In einer völlig fremden Umwelt oder Situation werde ich mich isoliert und unsicher fühlen, solange ich keine Anknüpfung an vorhandenes Wissen finde, das mir Orientierung und bewusste Reaktion ermöglicht.

Ich kann natürlich auch gezielt etwas Neues lernen wollen, eine andere Sprache, eine Fähigkeit oder Fertigkeit, um etwas Neues bewerkstelligen zu können. Ich kann darüber hinaus greifen und nach dem suchen, was man ‚überhaupt‘ in Erfahrung bringen, sich aneignen und also wissen kann von der Welt, in der man lebt, die sehr viel größer und weiter ist als die Umwelt des täglichen Lebens. Ein Teil dieses Strebens nach umfassenderem Wissen geschieht in der Wissenschaft als einer methodischen Suche nach Zusammenhängen und Erklärungen. Hier tritt besonders der Verstand in Aktion, dessen ordnende und verknüpfende Funktion mir die Muster und Zusammenhänge in der Welt zu entdecken hilft. Wenn es dabei um ein Finden von Wissen geht, das nicht nur mir selber, sondern allen, der Allgemeinheit zur Verfügung stehen soll, müssen weitere Bedingungen erfüllt sein wie zum Beispiel eine klar definierte Sprache, die Verallgemeinerungen und Abstraktionen erlaubt, Nachvollziehbarkeit für andere verständige Menschen und womöglich Nachprüfbarkeit, sofern es sich um ‚evidenzbasiertes‘ Wissen handelt. Man kann noch weitere oder anders formulierte Kriterien nennen, aber es dürfte hier bereits klar sein, dass Wissenschaft ein sehr komplexes System ist, zumal unter besonderen institutionellen Voraussetzungen, Wissen zu erlangen, zu systematisieren, zu erproben und weiter zu verarbeiten. Wissen erscheint dabei als eine Art Rohstoff, den es zu heben und zu kultivieren gilt.

Es gibt andere Formen des Wissens, die den Verstand einsetzen. Jedes Lernen, vom Kleinkind an, führt zu Wissen, meist in der Form des impliziten Wissens, das aktuell explizit werden kann, wenn ein Können gezeigt werden soll. Der gesamte Alltag ist voll von Wissen, dessen wir uns größtenteils nicht bewusst sind, das wir aber dennoch zur Bewältigung des täglichen Lebens selbstverständlich brauchen und anwenden. Die Beispiele aus dem zweiten Absatz gehören dazu und ließen sich beliebig erweitern. Es kommen dabei aber auch Formen des Wissens ins Spiel, die nicht rational begründet und insofern ‚vernünftig‘ sind. An das oft zitierte ‚Bauchgefühl‘ denke ich dabei noch nicht einmal in erster Linie, aber es weist in die hier in Rede stehende Richtung. Es gibt intuitives Wissen, ‚Gefühlswissen‘, künstlerisches und musisches Wissen, das mehr ’sagen‘ kann, als es ausformulierte wohlbegründete Sätze vermögen. Man könnte darüber streiten, ob es sich hierbei wirklich um Wissen handelt, – und so müssen wir doch eine vorläufige Bestimmung dessen wagen, was Wissen ‚überhaupt‘ ist. Wissen ist das, was mir meine Umwelt strukturiert und erfahrbar macht, was mich zu Aktionen, Verhaltensweisen, Deutungen und Verstehen, zu Ablehnung oder Einverständnis führt, dass es so oder so mit dem oder der sich ‚recht‘ verhält – oder eben nicht. Wissen ist all das, was ich mir  – rational, emotional, intuitiv, musisch – als meine Welt angeeignet habe und was mich in die Lage versetzt, mich zu äußern, mich in meiner Welt zu verhalten, mich zu verständigen, mit anderen Personen und Situationen zu kommunizieren und zu interagieren. Oder traditionell gesagt: Wissen umfasst all meine körperlichen und geistigen Fähigkeiten.

Franz Marc
Franz Marc, Die großen blauen Pferde, 1911 (c) wikimedia

Es versteht sich daher von selbst, dass eine Einschränkung der Bedeutung von Wissen auf ‚Wissenschaft‘ eine Engführung ist. Wissenschaft hat nicht das Monopol auf Wissen, sie bietet aber den rational besten, bewährtesten und allgemeinsten Weg, Wissen darzustellen, zu ordnen und zu erweitern. Ähnlich verhält es sich mit dem Gefühl, das eine eigene, nichtrationale Weise des Menschen ist, sich in seiner Welt zu verhalten, Freude und Zorn, Liebe und Hass usw. zu äußern und sich damit zu positionieren und identifizierbar zu machen als einer, der beteiligt ist an dem, was um ihn herum vor sich geht. Die Welt strukturiert sich emotional durch Zustimmung und Ablehnung, die man äußert und die einem widerfährt. Man tritt der Welt mit offenem Herzen gegenüber und richtet sich bisweilen nach dem, was einem der ‚Bauch‘ sagt. Auch hierdurch kann man Erfahrungen machen und persönliches Wissen erwerben, das allerdings nicht immer mit anderen geteilt werden kann.

Offen und oft über alle Sprachgrenzen hinweg gültig ist das in den verschiedenen Kunstformen enthaltene und kommunikativ dargestellte und erfahrbar gemachte Wissen. Nur Poesie und Literatur sind sprachlich gebunden; bildnerische Kunst, Malerei, Musik, Tanz sind Ausdrucksformen eines Wissens, das man als symbolisches Welt- und Kulturwissen bezeichnen könnte. Die ‚Sprache‘ der Musik wird in allen Kulturen und zu allen Zeiten verstanden, wenn auch nicht immer in derselben Art und auf dieselbe Weise. Untersuchungen zeigen, wie die Entwicklung der Kunst dem „neuen Menschen“ im Unterschied zum Neandertaler einen wesentlichen Vorsprung verschaffte, der sein Wissen in verallgemeinernden und symbolischen Formen vermittelbar machte und eine neue Art von Kommunikation ermöglichte [Vorsprung durch Kunst: Das Glück der neuen Menschen, von Nicholas J. Conard, Senckenberg-Professor für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie an der Universität Tübingen in: in FAZ 08.02.2017]. Die Felsmalereien in der Höhle von Lascaux ’sagen‘ auch dem heutigen Betrachter etwas, und zwar anderes und mehr als das, was sich außerdem noch paläontologisch darüber erfahren lässt. In den kultisch verwandten Bauwerken von Stonehenge oder Machu Picchu sind Kunstwerke enthalten, die Wissen in symbolischen Formen verarbeitet haben, das darüber hinaus astronomisch – kalendarisch nutzbar war. Insofern könnte es sein, dass das in den Kunstformen enthaltene und kommunizierte Wissen mit all seinen religiösen, symbolischen und emotionalen Bezügen die Grundlage bildete für dasjenige Wissen, dass dann im Laufe der Menschheitsgeschichte mehr abstrakt als rationale Form des Wissens auch die Philosophie und die neuere Naturwissenschaft hervorgebracht hat. Wissen ist dann zu Recht das alles umgreifende Feld der Weltbewältigung des Menschen – und das heute so dominierende technisch instrumentelle Wissen nur eine Unterform unter vielen anderen und andersartigen Formen des Wissens. Bei der Umgestaltung der natürlichen Umwelt war dieses allerdings besonders erfolgreich.

Wie erlangt man Wissen? Durch Erfahrung, durch Erzählung, durch Lernen, durch Entdecken, durch Ausprobieren, durch Experimentieren, – aber auch durch Stillhalten, durch Hören durch Nachsinnen, durch Betrachtung, durch Anschauung, durch Versenkung, – und schließlich ebenso durch aktive oder passive Mitgestaltung, durch Erprobung und Ausübung von künstlerischen Formen der Lebensäußerung, vom Einstimmen in diese musischen Lebensvollzüge. Wissen ist Macht? Zu allererst ist Wissen die Überwindung der Ohnmacht des Lebewesens Mensch, um mit all seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, zusammen mit anderen Menschen,  in Freiheit, Offenheit und Neugier sich seine Welt anzueignen und aktiv zu gestalten.

Eine Antwort auf „Welches Wissen?“

zur Diskussion in der Philosophie-Community von Google plus:

Ich gehe von einem ‚Wissen‘ aus, das Verstand, Gefühl und Muse umfasst, alles Formen, in denen es um Verhalten zu und Aneignung von Welt geht. Methodisch-rationales Wissen ist nur eine – wichtige – Form unter anderen. – Ich möchte die Verengung des Verständnisses von Wissen auf Wissenschaft oder Rationalität überwinden. Menschen erlangen in ihrem Leben und in ihrer Kultur mehr und anderes Wissen, als sich rational formulieren und begrifflich bestimmen lässt. Darüber hinaus stellt der materialistische Naturalismus eine weitere Engführung dar, sofern Wissen ausschließlich als Information gefasst und / oder in der Aktivität von Neuronen und Synapsen verortet wird.

Die Kulturgeschichte des Menschen ist eher spät (von heute aus gesehen) auf den Rationalismus oder Physikalismus verfallen. Viele ältere und ebenso essentielle Ausdrucksformen von erlebtem und erfahrenem Wissen finden sich in der Kunst und in der Religion. Ich habe es symbolisches Wissen genannt. Es ist ein Wissen, das die Rolle und das Selbstverständnis des Menschen im Verhältnis zu anderen Menschen und zu den Dingen der Welt beschreibt und ausdrückt. Es ist offenbar kein Zufall, wenn eine rationalistische oder analytische Wissenstheorie / Erkenntnistheorie mit Kunst so gut wie gar nichts mehr und mit Religion nur als Negativfolie etwas anfangen kann. Ich empfinde das als einen großen Verlust, dem es abzuhelfen gilt. Hermeneutische Aspekte tun der Philosophie gut, wenn sie auch nicht mehr annähernd so umfassend und „ehrgeizig“ in ihrem Wissensanspruch sein wird, wie es noch ein Hegel oder Schelling vermochten – oder soll ich sagen: wagten?

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