Nach der Aufklärung folgte die Romantik. Das stimmt zwar zeitlich nicht genau, denn die Romantik verlief weitgehend parallel zur Aufklärung, gewissermaßen als ihre sie begleitende Gegenbewegung. Dem Triumph der Vernunft im Rationalismus trat das Gefühl, jetzt besonders im Gemüt gefasst, zur Seite. Aus der Herrschaft der allgemeinen Vernunft folgten einerseits die Forderung nach allgemeinen Rechten (Menschenrechte) und Freiheiten (Republik), andererseits eine technische Rationalität, die in der aufkommenden Industrialisierung alles Alte auf den Kopf stellte und Bewährtes obsolet werden ließ. Die Romantik dagegen, übrigens auch als Rückzug vor der politischen Reaktion in die Innerlichkeit verstanden, suchte das Herz, das Gefühl, die innere Befindlichkeit des Menschen in seinem Gemüt in den Mittelpunkt zu stellen, seine Sehnsüchte und Träume („blaue Blume“) aufzunehmen und künstlich-künstlerisch zu verarbeiten. Beide Seiten umfassend konnte der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher die Religion neu bestimmen als das einigende Band im Menschen, das jenes unbestimmte „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ zum Ausdruck brachte. „Anschauung des Universums“ war das Motto seiner „Reden über die Religion – an die Gebildeten unter ihren Verächtern.“ Im „Deutschen Idealismus“ schließlich feierte die Subjektivität, bei Hegel in der Form des absoluten Geistes, ihren Höhepunkt.
Die durch die Restauration nicht aufzuhaltende Idee der Nation und die Bildung der Nationalstaaten begünstigte einerseits die weitere Industrialisierung und die Frühformen des (nationalen) Kapitalismus, andererseits beförderte dieselbe Idee einen nationalistischen Überschwang, der in der Folge mehrerer ‚moderner‘ Kriege (Krimkrieg 1853-56, die Preußisch-Deutschen Kriege 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1871 gegen Frankreich) zu imperialistischen Großmachtträumen und -gelüsten auf verschiedenen Seiten, insbesondere der deutschen, führte. Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918 war das Ergebnis und das Fanal dieser Spannungen. Wo war da die Vernunft, wo das Gefühl geblieben? Die darauf folgenden kommunistischen und faschistischen Bewegungen und der deutsche Nationalsozialismus steigerten die hybriden Erwartungen des Deutschen Reiches und führten in die bis dato absolute Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Die Extreme der isolierten Vernunft und des übersteigerten Gefühls, angetrieben durch globalisierte Kapitalinteressen im Spätkolonialismus und Imperialismus, produzierten den Untergang von Vernunft und Menschlichkeit, zurück blieb das Gefühl der Trauer und der Leere, nicht nur in Deutschland. Das „So nie wieder!“ führte zu der „Nachkriegsordnung“ mit UNO, NATO, später EU, welche die vergangenen sieben friedlichen Jahrzehnte in Europa geprägt haben. Mit den geistigen und gesellschaftlichen Wurzeln der vorausgegangenen Katastrophe rechneten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ab in ihrer programmatischen Schrift „Die Diaklektik der Aufklärung“, New York 1944, noch im Exil erschienen: Sie beschrieben die Verkehrung der emanzipatorischen Vernunft in die herrschende Unvernunft, nämlich die Unvernunft der Herrschenden in Form von Faschismus und Monopolkapitalismus. Die folgenden Zeiten der Prosperität und der Zusammenbruch des Kommunismus als Gegenpol haben dies alles schnell in Vergessenheit geraten lassen.
Geschichtliche Erfahrung wird bewusst selten länger als in einer Generation bewahrt. Auch geistesgeschichtliche Entwicklungen verlaufen in Wellen, dazu noch mit regionalen Unterschieden. Der angelsächsische Raum scheint sich bisweilen vom europäischen abgekoppelt zu haben – trotz oder wegen (?) des durch die Nazis verursachten brain drain in die Staaten. In der Philosophie dort wurde die Analytische Philosophie zum kulturellen Mainstream: Wissenschaft ist Naturwissenschaft ist Technik ist Fortschritt. Der Fortschritt aber beruht auf möglichst schranken- und grenzenloser, das heißt globaler Expansion des Kapitals. In der Gestalt eines praktischen Materialismus ist diese Denkweise auch bei uns in Europa und in Deutschland eingezogen und vorherrschend geworden. Vernünftig ist, was die Ökonomen beschreiben, auch wenn ihre Voraussagen fast nie eintrafen. Vernünftig ist Wachstum, vernünftig ist die technische Rationalität des „Immer mehr – immer höher – immer weiter“, vernünftig ist die effektive Verwaltung, unter anderem durch Beseitigen von Hindernissen globaler Wirtschaft und globalen Handels. Vernünftig ist die Zweckrationalität, die vorhandene Ziele einfach fortschreibt und quantitativ überbietet. Vernünftig ist Wirtschaftsplanung, Bildungsplanung, Familienplanung, Hochschulplanung, Raumplanung, Verkehrsplanung, überhaupt jegliche Art von Planung und „Planfeststellung“. Vernünftig ist das Funktionieren in einer globalisiert arbeitsteiligen, pluralistischen Gesellschaft, der die Verbindlichkeit einer Religion und das Gefühl für das Nichtverfügbare, Zufällige, Mysteriöse, abhanden gekommen scheint und die allgemein verbindliche Werte offiziell nur auf der Folie eines „Verfassungspatriotismus“ artikulieren kann. Dem entspricht eine Schulpolitik, deren Hauptaugenmerk auf den technisch-rationalen MINT-Fächern liegt. Die Kehre, die Gegenbewegung kann nicht ausbleiben.
Und sie lässt nicht lange auf sich warten. In der Anthoposophie und den Waldorfschulen war sie immer da. In den Bestsellerlisten des Buchhandels finden sich schon seit längerem Titel, die Anleitung zum Glücklichsein, zur Work-Life-Balance, zur Suche nach dem Ich anleiten. Erst Peter Sloterdijk, dann Richard David Precht sind die Autoren, die Populärphilosophie im Monatstakt produzieren: „Stress und Freiheit“, „Zorn und Zeit“, „Gottes Eifer“, „Kritik der zynischen Vernunft“, „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, „Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik“, „Nach Gott. Glaubens- und Unglaubensversuche“, „Was geschah im 20. Jahrhundert? Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft“ – so lauten Sloterdijks Buchtitel der letzten Jahre, und Precht fügt sich da nahtlos an: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“, „Liebe – ein unordentliches Gefühl“, „Erkenne dich selbst“, „Anna, die Schule und der liebe Gott“, „Die Kunst kein Egoist zu sein“, „Erkenne die Welt“, „Tiere denken“. Beide Autoren stehen hier als viel gelesene Beispiele für Themen und ihre Tendenz. Bestsellerautoren müssen ihr Ohr dicht am Bedürfnis einer großen Zahl intellektuell interessierter Leser haben. Die Ausweitung der Sicht auf größere Teile der Bevölkerung könnte eine Liste der diversen Talkshow-Themen geben, die es in den letzten Jahren gab. Sie werden allerdings mehr einen Spiegel der politischen Aufgeregtheiten vermitteln. Die sogenannten sozialen Medien, also Internet-Plattformen, verstärken und verlängern diese und ähnliche Tendenzen ins Extreme und Alarmistische. Und plötzlich (eigentlich gar nicht so plötzlich) sind da gesellschaftliche und politische Bewegungen in der ‚realen Welt‘, die sich am rechten Rand artikulieren, populistisch aufblasen und nach einem Auslöse-Ereignis (Flüchtlinge) an Einfluss, Aufmerksamkeit und Deutungsmacht gewinnen.
Und dann sind da zwei Ereignisse, die alle bisherige Erfahrung von Rationalität und Mainstream auf den Kopf zu stellen scheinen: Die Brexit-Entscheidung und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. In beiden Fällen scheint sich eine machtvolle Irrationalität Bahn zu brechen, gekennzeichnet durch die Schlagworte postfaktisch und fake news. Dass politische Entscheidungen in Abstimmungen nie rein rationale Kalküle sind, ist nichts Neues. Aber dass ein vehementer Protest gegen Verfahrens- und Verhandlungsweisen zur Konfliktregelung in der Gesellschaft, gegen anerkannte Regeln und Verbindlichkeiten, gegen Argumente und Begründungen, schlicht gegen das, was bisher als vernünftig und richtig galt (ich vermeide hier, von Werten zu sprechen), sich derart massiv Gehör und Geltung verschafft, das ist neu und unerwartet. Die Beunruhigung ist darum umso größer. Mir scheint, dass auf dem Grunde realer ökonomischer, sozialer und psychologischer Ursachen auch ein ‚geistesgeschichtlicher‘ Trend zu erkennen ist: die Infragestellung einer ‚instrumentellen Vernunft‘, die nun die Kinder und die Nutznießer der Wohlstandsgesellschaften bedroht. Die Zurückgelassenen melden sich machtvoll zurück auf der politischen Bühne. Die reine Innerlichkeit und Sinnsuche des intellektuellen Spiels der vergangenen Jahre war nur Symptom und kein Ventil. Auf einmal triumphieren wieder die Nicht-Vernunft, die öffentlich zur Schau getragene Wut, der Hass, die Diffamierung, der pure Wille zur Macht, der die Regeln der Wahrhaftigkeit, der Sachlichkeit und der Fairness über den Haufen wirft – natürlich unter emphatischen Behauptungen, es ginge ihm nur um die Wahrheit und das Recht: „Lügenpresse“ und „Du bist fake-news“ (Trump zu CNN-Reporter). Das dadurch initiierte intellektuelle und soziale Spiel ist perfide: Es geht dabei nämlich um die Kaperung von Begriffen und um die Umkehrung ihrer Bedeutung und Bewertung. „Breitbart“ ist dafür das krasseste Beispiel. Ich bin sicher, wir werden davon noch mehr erleben.
Die überwunden oder uninteressant gewordene Religion meldet sich wieder deutlicher zu Wort, zunächst allerdings als unverstandener islamischer Fundamentalismus. Dabei gibt es christlichen und buddhistischen Fundamentalismus ebenso lange und bisweilen ebenfalls gewalttätig. Dass es moderne Menschen gibt, denen religiöse Verpflichtungen wichtig sind für ihre Lebensgestaltung, scheint etwas Neues zu sein im Aufmerksamkeitsfokus mancher Medien. Aber auch die Philosophie in ihrer wissenschaftlichen Form wendet sich auf einmal wieder der Religion, der Theologie zu. In diesem Blog habe ich entsprechende neue Bücher vorgestellt (Holm Tetens, Volker Gerhardt), aber es wäre auch der Theologe und Religionsphilospoph Friedrich Wilhelm Graf zu nennen, der über die „Wiederkehr der Götter“ und „Götter global“ geschrieben hat. Es sind weitere zu nennen wie Thomas Buchheim, Michael Hampe oder Pirmin Stekeler-Weithofer, die sich vor allem gegen einen dogmatischen Naturalismus und Materialismus zur Wehr setzen und dabei auch auf die Religion verweisen. Im angelsächsischen Raum ist besonders Alvin Plantinga zu nennen, der, wahrlich ein analytischer Erkenntnistheoretiker, die Möglichkeit des (christlichen) Gottesgedankens philosophisch neu begründet. Das hat unerwartete Aktualität gewonnen und den kämpferischen Atheisten und Darwinisten Richard Dawkins in den medialen Hintergrund gedrängt. Von vielerlei Schrifttum über Spirituelles, Mystisches, Okkultes gar nicht extra zu reden. Das Bedürfnis nach dem Irrationalen, Nicht-Vernünftigen, Nicht-Funktionalem scheint in dem Maße zu wachsen, wie die Jünger digitaler Selbstverwirklichung das Eintreffen der „Singularität“ als der Zündung einer evolutionären Maschinen-Intelligenz erwarten (Ray Kurzweil, Menschheit 2.0. Die Singularität naht, 2013).
Man tut wie schon immer gut daran, die Vernunft nicht absolut zu setzen, weder die analytische noch die instrumentelle noch die kritische noch die digitale. Vernunft, das lehrt zumindest die Philosophiegeschichte auch, hat immer ihre Gegenspieler zur Seite: den Willen, die Über-Vernunft („höher als alle Vernunft“ Philipper 4,7), die Nicht-Vernunft, die Vernunft-Kritik und die Unvernunft. Der Wille kann sich zwar auch vernünftig rechtfertigen, aber er braucht das nicht; der Wille will, woher auch immer angetrieben – Hass, Liebe, Macht, Lust, Tod. Die Über-Vernunft beansprucht mehr zu wissen als die bloße Vernunft zulässt, sei es im Glauben, sei es im Fühlen oder ‚Schauen‘. Die Nicht-Vernunft verweist auf den engen Raum, welcher der Vernunfterkenntnis zugewiesen ist, und zugleich auf das weite Feld, dass es neben und außer aller Vernünftigkeit zum Beispiel in Kunst und Natur zu erfahren gibt. Die Vernunft-Kritik ist gewissermaßen die innere Selbstkritik der Vernunft, die sich kritisch ihr Vermögen, ihre Reichweite und ihre Grenzen bewusst macht – klassisch bei Immanuel Kant. Die Unvernunft schließlich wendet sich bewusst und mit Absicht gegen das „Diktat“ der Vernunft, gegen die Sachlichkeit und den Zwang der Faktizität, sie äußert sich kontrafaktisch und produziert unter anderem mit Lust fake news. [Letztere können allerdings auch durchaus im Dienst eines ‚vernünftigen‘ im Sinne von zweckrationalen politischen Kalküls zur Desinformation und Verunsicherung stehen.] Philosophie als diejenige Wissenschaft und Denkbewegung, die „ihre Zeit in Gedanken fasst“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rechtsphilosophie), kann selber kaum anders als vernünftig sein, weil die Vernunft ihr Arbeitsmittel ist. Aber sie kann und soll aus Gründen der Vernunft den mächtigen und wirkungsvollen Bereich all dessen zur Kenntnis nehmen und zu verstehen suchen, was nicht Vernunft ist. Bis vor kurzem hätte man sagen können: Das ist vor allem der Bereich des Gefühls und des Religiösen. Heute muss man allerdings hinzufügen: – und des aktuell Politischen.
Eine Antwort auf „Jenseits der Vernunft“
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