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Zahlen – Spiele

Die steril gewordene Diskussion um die Analytische Philosophie des Geistes bekommt neue Aktualität aus einer veränderten Perspektive. Es ist die Perspektive einer Philosophie der Mathematik. Die ontologische Frage, was Natur und Zahl eigentlich verbindet, erweist sich als äußerst fruchtbar und kreativ.

Manch einer, der des Streites über ‚Materie‘ und ‚Geist‘, über analytische oder hermeneutische ‚Metaphysik‘, über Naturalismus und / oder Idealismus überdrüssig ist, könnte versucht sein, seine Zuflucht in der Mathematik zu suchen. Die Mathematik steht bei den klassischen Philosophen (Platon, Aristoteles, Pythagoras) ebenso hoch im Kurs wie bei Naturalisten und analytischen Philosophen, und uneinig ist man sich bei Letzteren allenfalls in der Bewertung der Logik bezogen auf die Mathematik: ob etwa alle Mathematik in der Logik ihre Basis habe oder ob die theoretische Mathematik ein eigenständiges ontologisches Feld bearbeitet, – aber welches? Es geht in ihr um Zahlen, um Messen, um Mengen. Was sind eigentlich Zahlen? Wie verhalten sich Zählen (Analysis) und Messen (Geometrie) zueinander? Und was tragen dann noch die Mengen aus, vor allem, wenn es interessant werden soll, die unendlichen Mengen? Wieweit ist die Mathematik überhaupt auf Anschaulichkeit und natürliche Referenzen angewiesen, also auf „Konstruierbarkeit“ ihrer Theoreme? Wie steht es mit der Axiomatik, ohne die keine mathematische Theoriebildung möglich ist? Und die letzte, vielleicht wichtigste Frage: Wie verhalten sich Mathematik und Empirie zueinander, wie ‚Zahl‘ und ‚Natur‘? Immerhin, so lesen wir bei Galileo Galilei, sei das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben, und die Ergebnisse der experimentellen Physik lassen sich ohne die mathematischen Kalküle gar nicht beschreiben geschweige denn verstehen. Ein Naturgesetz wird durch eine Gleichung, einen Algorithmus fassbar. Die Mathematik ist für die Naturwissenschaft unerlässlich – gilt dasselbe auch umgekehrt? Oder reichen mathematische Gegenstände und Begriffe womöglich weit über den Bereich materieller Referenzen hinaus? Wir befinden uns damit bei den Fragestellungen einer Philosophie der Mathematik. Man darf vermuten, dass es darin nicht gerade einfacher wird.

Es ist das Verdienst von Bernulf Kanitscheider, umfassend in die aktuellen Fragestellungen der Philosophie der Mathematik einzuführen: Natur und Zahl. Die Mathematisierbarkeit der Welt, 2013. Kanitscheider ist ‚bekennender‘ analytischer Philosoph, und jede Metaphysik, erst recht eine idealistische wie die Hegels, ist ihm ein Gräuel. Metaphysische ebenso wie theologische Aussagen sind für ihn, wissenschaftlich betrachtet, reine Phantasma über einen „gespensterhaften“ Gegenstandsbereich. Gelegentlich erinnern seine polemischen Bemerkungen an Richard Dawkins. Man sollte sich nicht daran stören, denn er bietet eine sehr breit ausgeführte Darstellung der Diskussion um die Hintergründe und ‚Randbedingungen‘ mathematischer Entwürfe. Sein Ansatz in der Antike bewährt sich in erstaunlichen Aktualisierungen in der Gegenwart. Er stimmt dem analytisch-philosophischen Programm einer durchgängigen Naturalisierung der wissenschaftlichen Welt uneingeschränkt zu. Sein Wunsch wäre es, auch die Mathematik, ihre Gegenstände und Theoreme, physisch zu ’naturalisieren‘. Wenn Kanitscheider dann aber die erheblichen Probleme benennt, die einem solchen Vorhaben entgegen stehen, und sich selber auf einer gemäßigt aristotelischen Position wiederfindet, deren Abgrenzung zu einem platonisierenden ‚Realismus‘ der Mathematik ihm sichtlich schwer fällt, dann ist das für die Sache der philosophischen Mathematik überaus aufschlussreich.

Die immer wiederkehrende und in unterschiedlichen Entwürfen hin und her gewendete Frage lautet: Sind Zahlen etwas ontologisch Reales, oder sind es nur Zeichen, Benennungen für physisch reale Gegenstände? Sind also bei dem Satz: „Das sind 3 Äpfel.“ nur die Äpfel real und die „3“ eine rein gedankliche Benennung, oder ist die Zahl 3 eine eigenständige Entität? Wir sehen sofort, dies ist die alte Streitfrage zwischen Realismus und Nominalismus (übrigens ein metaphysisches Problem). Es kehren noch sehr viele andere alte Fragen wieder: Ist die Zahlenwelt ein eigenes Reich wie das Reich der platonischen Ideen, oder sind die Zahlen bzw. die mathematischen Relationen so etwas wie die der Materie aufgeprägten Strukturen, also das, was Aristoteles die Form nannte, die der Substanz erst konkrete Gegenständlichkeit verleiht? Im Hintergrund steht die bereits bei den Vorsokratikern gestellte Frage, wie es kommt, das die erkennbare Welt irgendwie ‚zahlenförmig‘ ist, oder neuzeitlicher gefragt, woher es kommt, dass sich die Phänomene der Natur nicht nur erstaunlich gut mit mathematischen Formeln beschreiben lassen, sondern dass mittels mathematisch formulierter Naturgesetze genaue Voraussagen über physische Prozesse möglich sind? Warum passen ‚Zahl‘ und ‚Natur‘ so gut zusammen, so dass Galilei die Mathematik als die „Sprache der Natur“ bezeichnet hat?

Galileis Beschreibung der Jupiter-Monde By Sage Ross - Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8619404
Galileis Arbeits-Instrumente By Sage Ross – Own work, CC BY-SA 3.0

Man hat das Problem noch nicht ganz erfasst, so lange man meint, dies sei doch eigentlich ganz klar, die Mathematik habe sich eben als abstrakte Sprachform zur Beschreibung natürlicher Prozesse bewährt, und wer mehr daraus mache, betreibe halt unnütze Spekulation, – eine praktisch-nominalistische Position. Der Punkt ist aber der, dass mathematische Axiomatiken eine eigene Welt darstellen mit eigenen Regeln und Randbedingungen, mit Schlussfolgerungen und Auswirkungen, die zwar Entsprechungen in der physischen Welt haben können, aber es nicht haben müssen. Im Streit um Cantors Unendlichkeiten wird gerade von Empiristen auf der Unsinnigkeit des physisch Unendlichen bestanden, und darum werden mathematisch unendliche Extensionen verworfen, mit scherwiegenden Folgen für das Verständnis empirischer Daten. Bei der Frage der Stetigkeit diskreter Entitäten und ihrem Verhältnis zum Kontinuum kehrt dieselbe Frage in anderer Form wieder: Was hat es mit der Eigendynamik (um nicht zu sagen Eigenlogik) mathematischer Theoriebildung auf sich, die eben nicht nur subjektiv-mentalistisch aufgeklärt, sondern als objektive abstrakte Gegebenheit kommuniziert werden kann? Völlig abstrakte mathematische Formen und Strukturen haben zwar immer wieder dazu verholfen, physikalische Prozesse zu verstehen und aus Ableitungen heraus Neues zu entdecken (z.B. Higgs-Boson), aber diese mathematischen Strukturen und Axiomatiken gelten als „wahr“, wenn sie widerspruchsfrei und schlüssig sind unabhängig davon, ob das physikalisch nützlich und verifizierbar ist oder nicht. Offenbar ist der Bereich mathematischer Gegenstände noch weiter und offener und vielgestaltiger, als es bezüglich physischer Realisierungen jemals vorstellbar ist. Diese ‚Eigengesetzlichkeit‘ der Mathematik, die ungeheure Produktivität ihrer Axiomatiken und die Eigendynamik der abstrakten Gegenstände und ‚Gebilde‘ (Mandelbrot!) ist vielleicht das stärkste Argument gegen den in der sinnlichen Erfahrung gründenden Nominalismus, der weder mit unendlichen Mengen noch mit unendlichen Reihen, noch überhaupt mit dem aktual Unendlichen ontologisch etwas anzufangen weiß.

Darum neigen viele bekannte Mathematiker (Gödel, Cantor, Russell, sogar Quine mit einem „conditional platonism“) zum mathematischen Platonismus. Die Mathematik befasst sich demnach mit einem eigenständigen Seinsbereich abstrakter Entitäten. Dann taucht sofort die Frage nach der Verbindung dieser ontologischen Ebene mit der ontisch-physikalischen Welt auf (Übergangs- oder Verknüpfungsproblem): Wie können ‚ideale‘ Gegenstände einer mathematischen Ontologie Auswirkungen auf physikalisch- ‚reale‘ Prozesse haben, wie können sie damit überhaupt zusammen hängen, wenn eine kausal-materielle Verknüpfung per definitionem ausscheidet? Radikale Positionen lösen das Übergangsproblem mit einem radikalen Platonismus: Nur die abstrakte Welt der Formen und Strukturen ist wirklich, diese produziert aus sich heraus den Schein einer physikalischen Realität (M. Tegmark, siehe Kanitscheider a.a.O.), und solange wir uns nicht zum Licht der Mathematik erheben, starren wir nur auf die Schatten an der Wand dessen, was für den Alltagsmenschen die physische Welt ist. Hier trifft sich der konsequente Platonismus mit einem ‚virtuellen Realismus‘ oder Fiktionalismus, der unsere konkrete Welt als eine von vielen möglichen Simulationswelten innerhalb digital-ontologischer Theorien begreift. Dann taucht aber die Frage auf, wie man eine „Rettung der Phänomene“ ins Werk setzen kann, ob und wie man den Schein der Simulation durchbrechen kann – Hillary Putnams „brain in a vat“ lässt grüßen.

Wem das zu weit geht und wem angesichts der Viele-Welten-Theorien schwindelig wird (obwohl die Multiversen-Theorie die einzig plausible Erklärung für die Unableitbarkeit der Naturkonstanten liefert), findet dann, wie auch Kanitscheider es tut, einen gemäßigten Aristotelismus für nahe liegend und praktikabel. Die mathematischen Strukturen liegen als untrennbar prägende Formen den physisch-materiellen Gegenständen zugrunde. Die pure Substanz ist ein nicht existentes metaphysisches Unding. Das Elektron ist ohne seine es bestimmende Struktur (Masse, Ladung, Spin) – nichts. Gemäßigt ist dieser aristotelische Realismus deswegen zu nennen, weil er durchaus Raum lassen will für die mathematischen Formen, die ’noch‘ keine physische Realisierung gefunden haben, es aber der Möglichkeit nach könnten. Dieser modale Vorbehalt soll die produktive Weiterarbeit der theoretischen Mathematiker ermöglichen, die zum Beispiel noch den „Cantor der kleinsten Zahl“ hervorbringen müssten, also eine Theorie über die Unendlichkeiten im Kleinsten, die gewissermaßen den Gegenpol zu den überabzählbaren Unendlichkeiten im Größten bilden sollen (Kanitscheider). Überhaupt ist das Feld der mathematischen ‚Gebilde‘ nicht auszumessen und offenbar ebenfalls unendlich groß. Der menschliche Geist ist noch längst nicht an seine Grenzen gestoßen, durch neue mathematische Räume (Axiomatiken) hindurch zu neuen Strukturen und Welten vorzustoßen. Man sieht: Der Übergang von Aristoteles zum Platonismus in der Mathematik ist nur ein kleiner Schritt.

Noch ein anderer Schritt bietet sich freilich an. Wenn man all die referierten und wiederholt breit dargestellten Positionen und die Abwägungen von Für und Wider liest und nachvollzieht, fühlt man sich unmittelbar in den Diskussionen, Alternativen und Aporien der jahrzehntelangen Diskussion um die ‚philosophy of mind‘, die Philosophie des Geistes aus analytischer und nicht-analytischer Sicht, hinein versetzt. Das Problem der Emergenz und der Supervenienz, der Identität und Differenz physischer und mentaler Gegebenheiten, des Übergangs bzw. der Naturalisierung mentaler in neurologische Prozesse, der Reduzierbarkeit und der ontologischen Valenz begrifflicher Extensionen usw. – alles kehrt hier in leicht verändertem Gewand wieder. So scheinen die Fragestellungen einer Philosophie der Mathematik in einem besonderen Bereich der abstrakten Strukturen die Probleme der Philosophie des Geistes erneut zu thematisieren. Auch die Antworten der klassischen Philosophen sind wieder da in erstaunlicher ‚alter‘ Frische. Aber etwas ist doch anders: Die steril gewordene Diskussion um die Analytische Philosophie bekommt wieder neues Leben aus einer veränderten Perspektive – und diese Perspektive der Mathematik erweist sich als äußerst fruchtbar und kreativ, – das zeigen die vielen neueren Veröffentlichungen zum Thema. Klarer als in vielen Verästelungen der mentalen Philosophie des Geistes werden hier Grundfragen und Probleme der Erkenntnistheorie erkennbar und benennbar, die wohl noch lange virulent und nicht ohne weiteres lösbar sind. Am Beispiel der Mathematik und der ihr eigenen ‚Welten‘ und Axiomatiken, gerade auch ihrer immer wieder Staunen erregenden Fähigkeit, physikalische Gegebenheiten und Prozesse zu verstehen und aufzuklären, zeigt sich die produktive Weite und irgendwie auch die ‚Inkommensurabilität‘ des menschlichen Geistes. Selber durchaus mit einem endlichen Gehirn verbunden ist er in der Lage, Unendliches konsistent zu denken und Beziehungen und Strukturen zwischen abstrakten Entitäten in Gestalt mathematischer Formen und naturalistischen Wirklichkeitsbereichen herzustellen dergestalt, dass nicht einmal der Gedanke, diese abstrakte Welt bringe die konkrete erst hervor, als völlig abwegig erscheint. Zum Glück kann auch Kanitscheider seine metaphysische Aversion nicht durchhalten – er gibt sie quasi an der Haustür beim Betreten der philosophischen Mathematik ab. Die offene und neugierige Nachfrage nach den ontologischen Qualitäten, nach kreativer Produktivität, nach der realen Verankerung der ‚virtuellen‘ Strukturen in den Gebäuden der Mathematik macht dieses Nachdenken ungemein spannend und anregend. Die „geprägte Form“ (Goethe), die sich sowohl biologisch als auch algorithmisch weiter entwickelt, hat etwas Faszinierendes, auch wenn der Zusammenhang von Natur und Zahl letztlich rätselhaft bleibt. VielIeicht sollte auch Aristoteles‘ Gedanke einer Teleologie (causa finalis) nicht gleich als theistisch desavouiert abgetan werden, sondern als ‚bias‘, als innere Tendenz der Strukturen und Energien erneut bedacht werden. Es könnte sich als produktive Intuition erweisen, auch hier dem Anstoß der alten Philosophen aktuell nachzugehen. Es geht um mehr als nur um Zahlenspiele.

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