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Der Begriff der Religion

[Religionsphilosophie]

Der neuzeitliche Begriff der Religion – ein ausgewählter Überblick

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher schrieb 1799 „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Diese Schrift stellt einen Einschnitt dar für das Verständnis der Religion in der Neuzeit. Die dort skizzierten Gedanken führt er später in seiner Glaubenslehre von 1821 umfassend aus in einer ersten modernen, das heißt anthropologisch begründeten „Dogmatik“. Berühmte Stichworte aus Schleiermachers „Reden“:

Religion ist
„Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“
„Anschauung des Universums“
„Sinn und Geschmack zu haben für das Unendliche“

Dies ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu dem, was sein Zeitgenosse Immanuel Kant in seiner „Kritik der reinen Vernnunft (1781) und danach in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) entwickelt. Wiederum in Stichworten:

Erkenntnis gibt es nur unter den „reinen Formen der Anschauung“ Raum und Zeit.
Gott kein Gegenstand von vernünftiger Erkenntnis und möglichem Wissen.
Moral ist in der „reinen praktischen Vernunft“ begründet, sie bedarf keiner Religion („kategorischer Imperativ“).
Ideen von „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele“ sind Postulate der praktischen Vernunft, um den „guten Lebenswandel“ der Menschen zu fördern.

Ganz anders erscheint einhundert Jahres später (und auf dem Hintergrund neuer kolonialer Erfahrungen) Religion bei Rudolf Otto, „Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ 1917. Dies Buch war durchaus epoachal.

In der Religion geht es um das Heilige, das Numinose („mysterium tremendum“, „mysterium fascinans“).
Das Göttliche ist „das Heilige minus seines sittlichen Moments minus seines rationalen Moments“.
„Eine Spur des Überschwänglichen aber lebt in jedem echten Gefühle religiöser Beseligung, auch wo es in Maßen und beherrscht auftritt.“

Church by Capecodprof  CC0 Public Domain
Church by Capecodprof CC0 Public Domain

In eine ähnliche, aber mehr existentiale Richtung denkt Paul Tillich: Systematische Theologie (3 Bde.) 1955 – 66; Auf der Grenze, 1962. Tillich entfaltete in Europa wenig Wirkung, war aber im angelsächsischen Raum äußerst einflussreich. Er lebte und lehrte in den USA (New York, Harvard, Chicago).

Das Religiöse ist die Erfahrung des Unbedingten; das, was uns unbedingt angeht.
Das Unbedingte ist, dass einen etwas total ergreifen kann und einen aus der Neutralität seiner Lebensgeschichte herauszieht. Das Unbedingte, das ist etwas, was in jedem menschlichen Lebensgebiet auftauchen kann.

„Mythen sind Symbole, die zu Geschichten verbunden sind, in denen Begegnungen zwischen Göttern und Menschen erzählt werden. Die Mythen sind in jedem Akt des Glaubens gegenwärtig, denn die Sprache des Glaubens ist das Symbol.“ „Ein Glaube, der seine Symbole wörtlich versteht, wird zum Götzenglauben. Er nennt etwas unbedingt, was weniger ist als unbedingt. Der Glaube aber, der um den symbolischen Charakter seiner Symbole weiß, gibt Gott die Ehre, die ihm gebührt.“ (P. Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, 1961)

Ganz anders wiederum stellt sich Religion für den Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann dar: Die Religion der Gesellschaft, 2000 (aus dem Nachlass). Seine Begrifflichkeit hat die religionssoziologische Diskussion in den letzten Jahrzehnten des 20 Jahrhunderts geprägt.

Religion ist als ein autonomes Funktionssystem ein Teilsystem der Gesellschaft wie Wissenschaft, Politik, Kunst.
Religion dient im Medium der Kommunikation der Bewältigung von Kontingenz (Zufall, Nicht-Notwendiges).
Eine wesentliche Funktion von Religion ist die Stiftung von Sinn in Form von Komplexitätsreduktion ihrer „Umwelt“.
Religion ist ein Kennzeichen der Ausdifferenzierung der Systeme gesellschaftlicher Kommunikation.

Insbesondere auf katholischer Seite wurde metaphysisches Denken auch im Widerspruch zur Aufklärung nie aufgegeben. Stellertretend steht der frühere Papst Joseph Ratzinger: Vernunft und Religion, 2005

„Wenn man sagen darf, dass der Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen nicht zuletzt durch den Anspruch seiner Vernünftigkeit ermöglicht wurde, so ist dem hinzuzufügen, dass ein zweites Motiv gleichbedeutend damit verbunden ist. Es besteht zunächst, ganz allgemein gesagt, im moralischen Ernst des Christentums als religio vera (wahre Religion).“
Die säkulare Rationalität sei nicht jeder Ratio einsichtig und stoße daher auf Grenzen. Ihre Evidenz sei an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden. Andererseits räumt er ein, „…dass es Pathologien in der Religion gibt, die höchst gefährlich sind und die es nötig machen, das göttliche Licht der Vernunft sozusagen als ein Kontrollorgan anzusehen, von dem her sich Religion immer wieder neu reinigen und ordnen lassen muss“.

Der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf ist derzeit vielleicht am engagiertesten, Religion in liberaler Tradition im Zeichen von Moderne und Postmoderne zu reflektieren, zuletzt in: Politik und Religion, 2013. Bei ihm findet man fast alle Motive des neuzeitlichen Religionsbegriffs.

„Die Tendenz zum Unbedingten, die emotional stark bindende Orientierung an Gott, die für religiöses Bewusstsein mindestens in monotheistischen Religionssystemen konstitutiv ist, ist ambivalent und bleibend gefährlich. Sosehr Religion den Menschen humanisieren kann, so sehr kann sie ihn auch barbarisieren, und die eine religiöse Bewusstseinsgestalt kann sehr schnell in die andere umschlagen; auch sind die Übergänge fließend.“

Aktuell lassen sich die grundsätzlichen Gegenpositionen in der Religionsphilosophie so benennen:

Religion bzw. religiöse Erfahrung ist empirisch unbegründet und religiöse Überzeugungen sind eine „Ansammlung sinnloser Sätze“. (Ansgar Beckermann, Glaube, 2013)

Dagegen hält Thomas Buchheim fest (2014): Religion ist ein wesentlicher Prozess der Selbsttranszendierung des Menschen angesichts des Unendlichen.
Das Denken Gottes muss eine Möglichkeit der (teleologisch) spekulativen Vernunft bleiben.