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Phantasien des Denkens

[Anthropologie]

Gelegentlich habe ich zwei Phantasien. Die eine: Was geschieht eigentlich, wenn es mit der Menschheit einmal aus und vorbei ist? Die andere hängt damit zusammen: Welche neue Verzweigung der Evolution ist vorstellbar?

Die erste Phantasie ist kein Szenario des Weltuntergangs. Ich denke da eher an Ereignisse, die sich im Verlauf der Erdgeschichte schon einige Male ereignet haben. Meteoriteneinschläge haben das Gesicht der Erde entscheidend verändert. Wir können heute einige solcher Riesenereignisse recht genau lokalisieren und datieren. Einer der größten ist der Vredefort-Krater in Südafrika, vor ca. 3 Milliarden Jahren entstanden mit mehr als 200 km Durchmesser. Die Wucht kann nicht mehr angegeben werden, doch das Ausmaß des Kraters macht eine globale Veränderung wahrscheinlich. Genaueres wissen wir vom Chicxulub-Krater in Yucatán, dessen Impact die Erde vor 65 Millionen Jahren traf. Dieser Einschlag wird mit dem Aussterben eines Großteils der Lebensformen auf der Erde, unter anderem der Dinosaurier, in Zusammenhang gebracht.

Während des Auftretens des homo sapiens hat es mehrere größere Einschläge gegeben, wie der Barringer Krater in Arizona (vor 50.000 Jahren) und der Kamil-Krater in Ägypten (vor 5000 Jahren, also in geschichtlicher Zeit) zeigen. Gut bekannt sind die Auswirkungen des vergleichsweise kleinen Tswaing-Kraters in Südafrika, dessen Einschlag zwar nur einen Durchmesser von gut 1 km hinterließ, dessen Wucht aber 1000 Hiroshima-Bomben entsprach. Dass es Meteoriteneinschläge auch in unserer Region gab, zeigt das Nördlinger Ries und das Steinheimer Becken. Einige Rätsel gab eine Zeit lang das Tunguska-Ereignis auf, das auf 1908 datiert wird und vermutlich den Einschlag eines mittelgroßen Asteroiden dokumentiert. Bislang ist eine Abwehr allenfalls kleinerer Asteroiden denkbar. Gegenüber größeren Meteoriten und anderen planetarischen Ereignissen dagegen sind wir auf absehbare Zeit hin hilflos.

Auf ganz andere umwälzende Ereignisse der Erdgeschichte und der Geschichte des Lebens weist die „Kambrische Explosion“ vor 540 Millionen Jahren hin. Damals entstanden die Grundformen des höher entwickelten Lebens, wie es sie bis heute gibt. Die Auslöser für diese Entwicklung sind unbekannt, aber es werden globale Ereignisse vermutet wie eine plötzliche Erwärmung, nachdem für Jahrmillionen die Erde durch eine veränderte Umlaufbahn fast komplett vereist war (Theorie der „Schneeball-Erde“). Es gibt noch mehr solcher Großereignisse, die die Entwicklung der Erde und des Lebens ermöglicht, verändert und umgelenkt haben. Man kann das alles ausgiebig nachlesen, Wikipedia bietet einen guten Einstieg dafür. Es sind Tatsachen, die geschehen sind.

Kurzes Fazit: Es kann jederzeit wieder passieren. Dass während der vergleichsweise kurzen Periode des Auftretens des modernen Menschen (homo sapiens) vor rund 2 Millionen Jahren kein planetarisches Großereignis aufgetreten ist, will nichts heißen; es ist Zufall. Erst aus menschlicher Sicht kann man solche Ereignisse auch Katastrophen nennen, ebenso wie die Erdbeben und Vulkanausbrüche, weil sie für den Menschen katastrophale Auswirkungen haben. Das muss nicht im selben Sinne für andere Lebensformen und für die Erde als Ganzes gelten. Wie heißt es bezüglich des Kapitalismus? „Destruktive Kraft der Erneuerung“ oder „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter) – genau so darf man sich auch globale Naturereignisse aus neutraler Warte vorstellen. Hinzu kommt, dass eine solche Riesenkatastrophe die Welt in einer sehr ungünstigen Lage treffen würde, nämlich einer solchen, die man beim Ackerbau „Monokultur“ nennt. Die globale Welt der Wirtschaft und der Technik ist tatsächlich eine einzige anthropozentrische Monokultur geworden mit entsprechender Einseitigkeit, Verletzlichkeit und begrenzter Fähigkeit, sich biologisch aus sich selbst heraus durch alternative Entwicklungen erneuern zu können. Um den Menschen herum ist es einsam geworden, wie das Artensterben belegt. Es gibt neben dem Menschen keine Alternativen des höher entwickelten Lebens.

Oder doch? Das führt mich zu der zweiten Phantasie. Was wäre, wenn wir etwas weniger anthropozentrisch denken und etwas mehr die alternativen Potentiale intelligenter Entwicklungen auf der Erde beachten und erforschen würden? Zumindest die Tierwelt hat da einiges an Überraschungen bereit – und was wissen wir schon von der Welt der Pflanzen und ihrer Überlebensstrategien? Während langer Epochen der Kulturgeschichte waren die Tiere zwar als andere und eigentümliche, aber nicht unbedingt als geringer wertige Lebewesen gegenüber dem Menschen anerkannt und darum auch natürlich (!) als beseelt gedacht (Aristoteles). Das änderte sich spätestens in der abendländischen Neuzeit. Jetzt wurde tierisches Leben allenfalls als mechanischer Automatismus erkannt, weil ihnen ja der Geist fehle. Darum konnte Descartes Tiere auch als biologische Maschinen auf die Seite der „ausgedehnten Sachen“ stellen, was bis heute Auswirkungen auf Tierhaltung, Tierversuche und auf die Rechtsprechnung hat. Erst sehr allmählich führt eine Diskussion über die Ethik der Tiere zu einem vorsichtigen Umdenken, das den Tieren eigene Würde und eigenes kreatürliches Recht zubilligen möchte. Von einer Würdigung der Tiere als gleichwertige hoch entwickelte Lebewesen sind wir noch weit entfernt. Gleichwertigkeit schließt übrigens Tötung und Verzehr nicht aus, wie die Jagdkultur vieler alter Völker beweist. [Nebenbemerkung: gerade Vegetarier und vor allem Veganer („alles was ein Gesicht hat“) vermenschlichen Tiere und vereinnahmen sie damit für die eigene Ideologie.] Es schlösse aber wohl fabrikmäßige Zucht und Schlachtung aus. Ethik der Tiere – in eigenes wichtiges Thema.

Die Verhaltensforschung, Neurobiologie und Intelligenzforschung haben in den vergangenen Jahrzehnten immer öfter Entdeckungen bei Tieren gemacht, die unser bisheriges Urteil über fehlende Intelligenz bei vielen Tierarten erheblich infrage stellen. Abgesehen davon, dass der Maßstab „Intelligenz“ durch und durch anthropogen definiert ist, findet man heute bei Walen, Delfinen, Kraken, einigen Primaten und verschiedenen Vögeln (Raben, Papageien) eine ausgeprägte Intelligenz vor, die zwar verschieden von unserer eigenen Intelligenz ist, aber ihr durchaus evolutionär nahe kommt. Sogar die Frage des Selbstbewusstseins lässt sich bei bestimmten Tieren nicht mehr ohne Weiteres verneinen. Verhaltensexperimente beweisen, dass einzelne Schimpansen und übrigens auch Rabenvögel ein intelligentes ’selbstbewusstes‘ Verhalten zeigen, das dem von 3 – 4 jährigen Kindern gleicht (z. B. Täuschen, sich in den anderen Hineinversetzen, Strategien entwickeln). Auch die Frage nach der Sprachfähigkeit der Tiere (Wale, bestimmte Affenarten) muss neu gestellt werden, nachdem tierische Laute bei einigen Arten als differenzierte Mitteilungen und soziale Verständigungsmuster erkannt wurden. Wenn Sprache als Voraussetzung des Denkens betrachtet wird (Lingualismus), dann müsste man einigen Tieren bzw. Tierarten eine begrenzte Denkfähigkeit bescheinigen, die strukturell und potentiell der menschlichen Denkfähigkeit nahe steht.

Potentiell – damit meine ich: Was wäre da evolutionär alles vorstellbar, wenn man einmal vom Menschen absieht? Welche Tierarten könnten das Erbe der Menschheit in der Geschichte der Evolution antreten, wenn es den Menschen zum Beispiel durch eigenes Zutun (Seuchen, Klimaveränderung, Gen-Unfälle) eines Tages nicht mehr oder nur noch in marginalen Restpopulationen gibt? Auch Technik könnte dann verloren und Wissen untergegangen sein. „Schöpferische Zerstörung“ könnte eine andere Spezies zur Blüte bringen, die Erde also einen weiteren Anlauf für die Entwicklung neuer Lebens- und Organisationsformen nehmen. Es ist vorstellbar, man kann darüber phantasieren. Zumindest veranlasst mich ein solches Überlegen, sehr viel stärker nach den bisher unentdeckten und nicht wahrgenommenen, geschweige denn gewürdigten Möglichkeiten (Potentialen) der jetzt schon gegebenen und vorhandenen Lebensformen, Arten und Anlagen zu suchen. Es wäre ein Konzept des Fragens und Forschens, das den anthropozentrischen Rahmen als zu eng verlässt. Vielleicht liegt es ja schon in der Natur der Dinge, immer wieder andere Möglichkeiten in sich zu tragen, die entfaltet werden können, also schon an sich selber ein Potential zu besitzen, das Weiterentwicklungen und Alternativen bereit hält. Konvergenzen hat es in der Evolution immer gegeben, und Umformungen und neue Ausprägungen ebenfalls. Der Gedanke der ontologischen Teleologie (Prozess-Ontologie) macht es mir leichter, solche Phantasien durchaus als Denk-Alternativen zu begreifen. Vielleicht bringt einen ja doch unsere Phantasie weiter als die naturgegebene „schöpferische Zerstörung“.