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Anthropologie Philosophie Weltbild

Teleologie der Natur

[Philosophie]

Im vorigen Beitrag habe ich die Frage nach Mensch und Kosmos im Blick auf ihre Herkunft beschrieben. Jetzt möchte ich den Blick vom Gewordensein aufs Werden hin lenken, also auf Welt und Wirklichkeit hinsichtlich ihrer Möglichkeiten. Hierfür ist man noch stärker auf ein strukturierendes Modell angewiesen als bei der Interpretation der Fakten ihrer Entstehung. Ich unterscheide zwischen einem Weltbild als einem hypothetischen Gesamtmodell der Theoriebildung („Paradigma“) und einer Weltanschauung, die eine Gesamtschau von Welt und Mensch als Überzeugungen verinnerlicht. Weltanschauungen beruhen auf Glauben und Überzeugung und sind den Religionen verwandt, ein Weltbild hingegen ist eine notwendige Voraussetzung sinnvoller Theoriebildung mit dem Ziel der Erklärung vorhandener Tatsachen. Man sollte das eine nicht mit dem anderen verwechseln, um Dogmatismus zu vermeiden.

Das kopernikanische Weltbild hat das ptolemäische abgelöst, so wie das relativistische und quantendynamische Weltbild nach Planck und Einstein das mechanistische Weltbild Galileis und Newtons abgelöst hat. Vielleicht wird ein neuro- und kognitionswissenschaftliches Weltbild das dualistisch-cartesianische Weltbild ablösen. Physikalistisch anzusetzen und von einem materialistisch-monistischen Weltbild auszugehen kann als Arbeitshypothese sinnvoll und ergiebig sein. Man muss nur zusehen, wie weit die darauf aufbauende Theoriebildung trägt und wo sie an ihre Grenzen stößt. Die Frage ist dann im konkreten Fall, ob die jeweilige Theorie bzw. das jeweilige Modell falsch ist oder das zugrunde liegende Weltbild. Wir sind heute, so meine These, in den Naturwissenschaften, in den Kognitionswissenschaften und in der philosophischen Anthropologie in einer Situation, nicht mehr nur unterschiedliche Theorieansätze und Arbeitsweisen gegeneinander abzuwägen, sondern das der heutigen Wissenschaft oft unausgesprochen zugrunde liegende Weltbild anzuzweifeln. Diese Fragestellung geht philosophisch über die Alternativen Analytische Philosophie, Strukturalismus oder Systemtheorie bzw. ihre Mischformen hinaus.

Physikalisch gesehen stehen wir heute immer noch unter dem prägenden Einfluss Newtons, ontologisch und erkenntnistheoretisch unter dem Einfluss Descartes. Die Relativitätstheorie und die Quantentheorie (man müsste besser von einem weit gefassten und differenzierten mathematisch-physikalischen Theoriesystem sprechen) haben zwar einerseits die Gravitationstheorie und Mechanik Newtons abgelöst, aber nur insofern, als sie eine sehr viel speziellere Erklärung und Präzisierung in mikrophysikalischen und kosmologischen Dimensionen bieten. Newtons Gesetze behalten allesamt Gültigkeit und kommen als Grenzfälle in unseren normalen Größenordnungen vor, wo relativistische und quantenmechanische Effekte so winzig sind, dass sie vernachlässigt werden können. Allerdings hat sich Newtons absoluter Raum relativiert: Die black box „leerer Raum“ ist zur gekrümmten Raumzeit geworden, die in direkter Abhängigkeit zur Gravitation steht, von gravitativen Objekten geradezu erzeugt wird. Die newtonsche Objektivität von Raum und Zeit ist dadurch aber keineswegs verloren gegangen. Sie findet sich in relativistisch exakt beschreibbaren Verhältnissen und quantendynamisch berechenbaren Prozessen als äußere, gegenständliche Wirklichkeit wieder. Das Bohrsche Atommodell spiegelt diese Mechanik genau wider, auch wenn dieses frühe Standardmodell der „Atomphysik“ in der heutigen Teilchenphysik kaum mehr zu gebrauchen ist. Von einer erkenntnistheoretischen Skepsis eines Kant, der Raum und Zeit genau als „reine Formen der Anschauung“ definierte und sie damit in den Bereich der erkenntnismäßigen Aprioris verwies, findet sich in der physikalischen Theorie keine Spur.

Das führt zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Neuzeit, wie sie Descartes geprägt hat. Es steht hier der cartesianische Dualismus in Rede. Seine Unterscheidung (die eigentlich eine strikte Trennung ist) von res cogitans und res extensa, also von erkennendem, selbstbewussten Ich und den äußeren, eben nur ausgedehnten Gegenständen der Welt ist die moderne Grundform des heute oft beklagten Dualismus. Gemeinhin wird dafür ja Platon verantwortlich gemacht – ein keineswegs zwingendes Ergebnis einer neuplatonischen und erst recht cartesianischen Interpretation, die man im Idealismus wieder findet. Erst durch Descartes‘ Trennung gibt es überhaupt ein zugespitztes Leib-Seele-Problem, denn die Frage ist ja schon, wie sich das selbstbewusste Ich rein denkend überhaupt zu seinem Körper als ausgedehnter Sache verhält. Für die Einheit beider res brauchte Descartes (verkürzt gesagt) Gott als Garanten. Wenn aber der Theismus weg fällt, bleibt entweder das pure gegenstandslose Ich – oder die reine ausgedehnte Materie als einzige Substanz. Genau da sieht sich die moderne Wissenschaft. Der physikalistische Materialismus ist ein einseitiges, aber legitimes Kind Descartes, und die Ablehnung des dualistischen Denkens ist letztlich die Kritik des cartesianischen Dualismus. Das heutige materialistische Weltbild ist aber keineswegs zwingend, und der Dualismus Descartes‘ nicht die einzige Alternative.

Es gibt in der neueren Philosophie des Geistes zahlreiche Versuche, zwischen Dualismus und Monismus durch bestimmte Differenzierungen und Definitionen irgendwie hindurch zu kommen wie zwischen Skylla und Charybdis. David Chalmers zum Beispiel hat die verschiedenen möglichen Positionen wunderschön dargestellt. Aus meiner Sicht kranken all diese Versionen (Substanzdualismus, Eigenschaftsdualismus, Epiphänomenalismus, materialistischer Monismus usw.) daran, fast verbissen an der dualistisch verstandenen Alternative Materie – Geist festzuhalten bzw. sie einseitig aufzulösen. Der Gegensatz ist bis zum Ermüden ausdiskutiert und endet letztlich im Behaupten eines Standpunktes. Ich möchte dagegen ein anderes Denkmodell vorschlagen jenseits der fruchtlosen Alternativen. Ein solches Denkmodell muss die starre cartesianische Ausgangsposition verlassen. Man braucht dazu das Rad nicht neu zu erfinden. Man kann auf Denkansätze zurück greifen, deren ganz andere Begrifflichkeit und Teleologie für die heutigen Fragestellungen und Diskussionen zu übersetzen und fruchtbar zu machen wären. Ich denke an Aristoteles.

Wenn man sich Aristoteles neu nähert und dabei versucht, den scholastisch-metaphysischen Ballast abzustreifen und die neuplatonisch-theistische Interpretation nicht als die einzig wahre und mögliche Aristoteles-Rezeption gelten zu lassen, dann begegnet einem ein ungemein modern anmutender Denker. In seiner Begrifflichkeit hinsichtlich Erkenntnistheorie und Ontologie steckt enormes Potential (! siehe unten). Aristoteles hat ein Denkmodell vorgelegt, das vom konkreten Einzelding ausgeht und nach seinen Relationen und Möglichkeiten fragt. Eine moderne Aristoteles-Rezeption *) könnte an der Relation von Substanz und Form (ousia und eidos) ansetzen und die Form als Strukturprinzip der Materie verstehen. Zusammen mit dem Begriffspaar Potenz und Akt (dynamis – energeia / entelechia) lässt sich eine dynamische Ontologie entwerfen, die in der konkreten Realisation eines Gegenstandes zum einen realisierte Möglichkeit (Potentialität) erkennt, aber zugleich der aktualen Verwirklichung neue Potentiale zur Veränderung und Weiterentwicklung zuspricht. Die Dynamisierung dieses Denkmodells findet sich schon in den Begriffen. Das deutsche „Potenz“ und „Akt“ für griechisch dynamis und energeia klingt viel zu statisch, um einer Wirklichkeit im Wandel, in der Veränderung, begrifflich gerecht zu werden. Das Strukturprinzip („Form“) der Wirklichkeit („Substanz“) ist an sich selber bereits „Dynamik“, also Kraft, Werden, Veränderung (energeia), das zur Verwirklichung, Umsetzung, Ausprägung strebt. Dieser Prozess kann  mit dem Begriff Entelechie zusammengefasst werden: Die prägende Struktur („Idee“) des Seins (Seienden) trägt das Potential zur Verwirklichung neuer Seinsstrukturen bereits in sich. Diese dynamische Ontologie ist von Anfang an, also prinzipiell „gerichtet“ (telos), ohne dass ein Ziel von vornherein bestimmt und gar bekannt sein muss. Teleologisch zu denken heißt dann nicht, auf ein bestimmtes Endziel hin zu denken (was sollte das auch sein?), sondern in Entwicklungsmöglichkeiten zu denken, das heißt der in der materiellen Struktur bereits inne wohnenden Tendenz (bias) zu folgen und die Wirklichkeit als Verwirklichung konkreter möglicher Formen zu begreifen. Evolution wäre nur der biologische Aspekt einer solchen Prozess-Ontologie (Whitehead). Das statische Paradigma eines materialistischen Physikalismus wäre aufgebrochen zugunsten eines dynamischen Wirklichkeits-Paradigmas, das Potentialität, Zielgerichtetheit, Dynamik, Veränderung / Entwicklung bereits ontologisch eingeholt hat.

Diese Andeutungen reichen knapp für eine Skizze, aber nicht als Thesis eines umfassenden Programms. Das wäre erst noch zu entwickeln. Es könnte eine spannende Sache sein. Dabei fallen einem auch noch die begrifflichen Parallelen ins Gesicht, die als „Materie“, „Energie“ und „Dynamik“ in der heutigen Physik eine grundlegende Rolle spielen. Und was „Energie“ oder „Materie“ eigentlich ist, darf man den Physiker nicht fragen, der beschreibt Wirkungen und Wechselwirkungen. Diese ontologische Frage führt durchaus zu neuen Konkretionen. Wer weiß denn schon, was das „Telos“ feuernder C-Fasern ist! Der große Gewinn eines solchen Ansatzes liegt darin, das er näher bei der Intuition wäre, dass Wirklichkeit nicht nur aus kausal verkettetem Zufall besteht. Noch einmal verweise ich gerne auf Thomas Nagel (siehe voriger Beitrag), der ebenfalls ein teleologisches Denkmodell anvisiert, das noch zu entwickeln wäre. Ob man dabei auf der Basis des bisherigen Physikalismus verbleiben kann, wage ich allerdings zu bezweifeln – oder: meinetwegen ‚Physikalismus‘, aber mit der Physik und Biologie und Neurologie einer dynamisierten, teleologisch interpretierten Struktur der Natur, die ihre Potentiale („Mächtigkeiten“) sogar in Form des Geistes in sich trägt.

*) „Im Übrigen ist wohl noch nie so vielfältig und weltweit über Aristoteles gearbeitet worden wie gegenwärtig“, Flashar (2004) zit. nach Wikipedia, Aristoteles.