Altes Denken – neues Denken, das ist doch keine Alternative. Altes Denken ist eben alt, vergangen, ‚out‘; neues Denken ist modern, dran, ‚in‘. Seit Francis Bacon (†1626) ist „das Neue“ Ausweis wirklichen Wissens und vorwärts treibende Kraft der Wissenschaft. „Wissen ist Macht“ – dieses Diktum wird ihm zugeschrieben, es kennzeichnet durchaus das, was Bacon mit seiner „Neuen Methodenlehre der Wissenschaft“ (1620) verband: den stetigen Fortschritt der Erkenntnis und eine wachsende Naturbeherrschung. Seine Gedanken haben das, was sich danach im neuzeitlichen Denken und Wissensbetrieb abspielte, erstaunlich hellsichtig auf den Begriff gebracht. Bacon kennzeichnet damit die endgültige Abkehr vom mittelalterlichen Denken, dessen Gütesiegel eher darin bestanden hatte, wie die berühmten Alten zu denken und keine Neuerungen zu lehren. Denn das war ja gerade der Inbegriff der Ketzerei: Neues zu lehren und nicht mehr der Tradition zu folgen. Die Hinwendung zum fortschreitend Neuen kennzeichnet sehr präzise die Wende zur „Neu-Zeit“, nämlich zur ‚Zeit des Neuen‘. Klaus Peter Fischer hat in einem kleinen Vortrag „Als das Neue noch neu war“ sehr schön diesen Wandel der Perspektive des Denkens heraus gestellt.
Für uns heute ist diese Perspektive ganz vertraut, ganz selbstverständlich. Nur das Neue ist wirklich interessant. Nachrichten sind eo ipso „Neuigkeiten, „news“. ‚Altigkeiten‘ gibts nicht. Neue Ideen, neue Modelle, neue Lösungen sind gefragt. Im Zeitalter des Internets leben wir in einer ständig Neues produzierenden Welt: Neue ‚gadgets‘, neue ‚apps‘, neue (Facebook-) Freunde und Kontakte, das Neuste jeweils als „Gezwitscher“ im Netz, neue Bildung, neues Wissen usw. Manche sehen ja erst mit den Möglichkeiten des Internets die wirklich neue Neuzeit angebrochen. Im Denken zumindest gilt Älteres nur dann als interessant, wenn früher schon etwas Neues gedacht und eben nur nicht beachtet wurde. Das Alte als solches ist definitiv vorbei und uninteressant. Es wäre durchaus lohnend, einmal über das Zeitgefühl nachzudenken, das sich in dieser modernen Mentalität äußert. Der Hinweis, es sei eben zielgerichtetes Denken auf dem „Zeitpfeil“ und nicht mehr Denken in Kreisläufen, gibt eine einfache, vielleicht sogar zutreffende Deutung, reicht aber zur näheren Kennzeichnung und Erfassung dessen, was unser neuzeitliches Zeitverständnis ausmacht, noch längst nicht aus.

Vielleicht liegt das auch daran, dass viele nur noch Kurzes lesen (wenn denn gelesen wird), mal eben den Anfang einer Nachricht, einer Geschichte, eines Blogbeitrags („tl;dr“), – Lesen als literales Zappen gewissermaßen. Oft fehlt die Muße und die Mühe, ein größeres Werk in seinem Zusammenhang zu lesen, zu durchdenken, zur Kenntnis zu nehmen. Dies Verhalten ist natürlich nicht neu, wird aber durch die schnellen Medien und den Zwang zur Kürze (Twitter: 140 Zeichen) und durch die ständig einströmenden Meldungen der jeweiligen „timeline“ erheblich gefördert. Dabei lässt sich komplexes Denken, also ein Denken, das sich als größeres System begreift und ein Denkgebäude darstellt, kaum im Vorbeigehen erfassen. Das braucht Zeit, um in alle Räume dieses Denkens einzutauchen. Nur dann wird sich das Spezifische, das Eigentümliche, das Faszinierende und das vielleicht sogar Wahre dieses jeweiligen Denkentwurfs erschließen. Hinzu kommt, dass manche denkerischen Gebäude schwer zugänglich sind, man sich einlesen und eindenken muss, die Begrifflichkeit des Denkens lernen und verstehen muss, um überhaupt erst die „Denkräume“ begehen und erforschen zu können. Dies gilt übrigens nicht nur für Philosophen, die als „schwer“ gelten (Leibniz, Kant, Wittgenstein), sondern oft viel mehr für die vermeintlichen „Leichtgewichte“ im Verstehen, die sich so glatt weglesen (Platon, Jaspers), deren strenge und sehr präzisen Denkstruktur dann aber glatt übersehen oder gar nicht erfasst werden. Schon gar nicht gilt das für die „Modedenker“, zu denen ich hier einmal Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk rechne, wobei auf jeden Fall die beiden Erstgenannten in ihren eigenen Werken (weniger in den Popularisierungen) äußerst streng, präzise, vielschichtig und deswegen ’schwierig‘ sind. Sloterdijk legt es von vornherein, mit Sprache spielend, mehr aufs Feuilleton an, was die Gefahr der Fehleinschätzung als „oberflächlich“ eher noch erhöht.
Wer es aber unternimmt, in das Gebäude eines Denkens hinein zu gehen und es auszuforschen, einem Denker auf seinen Denkwegen zu folgen und auch dem nur Angedeuteten, Ungesagten nachzuspüren, dem erschließt sich eine ganz andere Welt, ja auch eine ’neue‘ Welt, nämlich unterschieden von dem, was einem bisher zu denken und verstehen gewohnt und vertraut war. Und dann spielt es auch kaum eine Rolle, ob es sich um einen „alten“ oder einen „modernen“ Denker handelt. Ja, es kann einem dann so ergehen, dass ein recht altes Denksystem, gerade weil es uns in seinen Zusammenhängen so fremdartig und unvertraut ist, völlig faszinieren und neue Räume öffnen und Denkmöglichkeiten erschließen kann, als käme es aus einer anderen Welt. Mir ist das so bei dem schon literarisch-technisch in der Tat schwer zugänglichen Werk Plotins († 270) ergangen. „Faszinierend“, um es mit Spock zu sagen. Beginnt man dieses platonische (neuplatonisch genannte) Denken eines so großartigen Denkers wie Plotin ein wenig zu begreifen, erkennt man eine Schönheit und Wahrheit („ja, das ist so“), die einen fast überwältigen kann. Klar, eine solche faszinierende Wirkung führt leicht dazu, über die Widersprüche und Fragwürdigkeiten hinweg zu sehen. Dennoch, es liegt ein besonderer Reiz in der Entdeckung solcher Denkwege und Denkmöglichkeiten. Beim genaueren Hinschauen ist dann zu merken, wie sehr doch viele Begriffe und Ideen eines Plotin und seines Schülers Porphyrios zum Beispiel Jahrhunderte später wieder kehren und in diesem Falle bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel fast in Reinform auftauchen. So nah liegt oft das Alte.
Ich komme darum immer mehr zu der Einsicht, dass es nur sehr wenig wirklich Neues im Denken und Verstehen gibt. Das Meiste, was uns neu erscheint, ist uns nur unbekannt gewesen, obwohl es schon längst da war und gedacht und beschrieben worden ist. Das trifft sich mit der Bemerkung des britischen Philosophen Alfred North Whiteheads († 1947), die abendländische Philosophiegeschichte bestehe aus „Fußnoten zu Plato“. Oft ist das jeweils Neue nur eine kleine Änderung der Perspektive, eine leichte Verschiebung des Gewichtes bestimmter Ansätze und Ausgangspunkt. So etwas kann man sehr schön bei Descartes im Vergleich zu seinen unmittelbaren Vorläufern und Zeitgenossen finden. Das Besondere und Geniale liegt dann, übrigens nicht nur im Denken, im rechten Zeitpunkt und im gefundenen Begriff. Auf die knappe Formulierung „cogito ergo sum“ muss man erstmal kommen, auch wenn der Sache nach Ähnliches schon lange vorher gedacht und geschrieben war. Mich interessiert darum immer wieder und oftmals stärker als manches Neue, das sich in Kürze als Geschwätz erweist, das Alte: Denkmöglichkeiten, die schon einmal erprobt, formuliert, vielleicht nur angedeutet waren. Wenn ich oder ein beliebiger anderer dies heute tut, geschieht es ja in einem ganz anderen zeitlichen Zusammenhang, in einer anderen Welt als derjenigen, in welcher der ursprüngliche Denker gelebt und gearbeitet hat. Schon die ‚Verfremdung‘ kann erhellend sein. Erneutes Nachdenken eines alten Gedankens ist dann eben doch auch zugleich ein erneutes Durchdenken und insofern ein ’neues Denken‘. Das Alte neu zu denken ist dann vielleicht das Spannendste, was es überhaupt zu denken gibt.